Freitag, 26. August 2011

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Ungehorsam ist Pflicht

Es gehört zu den unleugbaren Lehren unserer Geschichte, dass die bürgerliche Demokratie selbst den Aufmarsch des Faschismus begünstigt, wenn Justiz und Polizeigewalt die Nazigegner am Widerstand hindern, kriminalisieren und schuldig sprechen. Als Konsequenz dieser Erfahrung wurde ins Grundgesetz der Bundesrepublik der Artikel 20, Abs.4 aufgenommen. Er lautet:
„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Doch wieder erleben wir seit vielen Jahren, dass Richter nazistische Hetze ausdrücklich unter den Schutz der Staatsgewalt stellen. Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Neonazis - ich kann mir nicht vorstellen, dass die Hüter der demokratischen Rechtsordnung so dumm sind, die Nazis von heute nicht als Erben des Nazireichs zu erkennen. Wenn also Dummheit ausscheidet, sieht der gesunde Menschenverstand nur vier mögliche Erklärungen für die Haltung dieser Richter:

- entweder den idealistischen Irrglauben, Demokratie und Humanität könnten sich allein im gewaltfreien Meinungsstreit gegen ihre gewalttätig organisierten Feinde durchsetzen;

- oder Mangel an Mut, das bewußt unscharf gehaltene politische Strafrecht so scharf gegen rechts anzuwenden, wie die Lehren aus Weimar und Nazireich es gebieten;

- ideologische Nähe zu rechtsradikalen Meinungen;

- oder die Richter benutzen die Stiefelnazis als nützliche Idioten, um aktive Demokraten als ebenso extremistisch und „gewaltbereit“ wie die Nazis zu denunzieren, im Vertrauen darauf, dass die Polizei beide zuverlässig in Schach halten kann.

Alle vier Möglichkeiten stehen im Widerspruch zu den Erfordernissen der Demokratie. Rechtsextreme Meinungen lassen sich tatsächlich nicht verbieten – aber deren organisierte Verbreitung sehr wohl. Dazu sind Gerichte offenkundig nicht bereit. So gehören denn organisierte Nazibanden zu unserer Gesellschaft, weil und solange wir uns solche Richter leisten wollen. Ihnen zu gehorchen, ist nicht „erste Bürgerpflicht“, sondern tödlich – schon heute wieder! Da bleibt tatsächlich nur das Recht auf Widerstand.

Von einem (sozial-) demokratischen Polizeipräsidenten wäre zu verlangen, dass er die Verfassung kennt, auf die er seinen Amtseid geschworen hat. Und wenn er schon nicht selbst aus seinem Kadavergehorsam herausfindet, sollte er wenigstens die Bürger auf ihr verfassungsgemäßes Recht zum Widerstand hinweisen und die demokratische Pflicht, es zu nutzen. Von einer demokratischen Presse wäre dasselbe zu verlangen.

In Dortmund ist das offenbar zuviel verlangt. Da droht der oberste Knüppelschwinger schon mal vorbeugend, Blockade sei ein "Straftatbestand". Dass jüngere Gerichtsurteile zu anderen Ergebnissen kamen, ignoriert er. Denn sie passen nicht in die Pro-Nazi-Taktik, mit der die Polizei Dortmund erst zu einem festen Nazi-Stützpunkt gemacht hat. 

Da kann ich nur raten: Nicht einschüchtern lassen! Selbst aktiv werden. Der Widerstand richtet sich auch gegen eine auf dem rechten Auge blinde Staatsmacht. 

Siehe auch:
http://www.dielinke-nrw.de/start/aktuelles/detailansicht_der_news/zurueck/aktuelles/artikel/was-die-dresdener-koennen-koennen-die-dortmunder-auch/

Samstag, 20. August 2011

Der Papst soll arbeitslos werden

Als in den neunzehnhundertachtziger Jahren der Papst Woityla nach München kam, empfingen ihn einige junge Leute in einem Teufelskostüm und mit Schildern: „Der Papst soll arbeiten gehen.“ Eine Handvoll nur im tiefschwarzen Bayern protestierte damals gegen die Millionen DM, die der kirchenfürstliche Besuch verschlang. Das waren noch Peanuts gegen den Ratzinger-Prunk: 120 Millionen Euro kostete der Weltjugendtag in Köln, mindestens 50 Millionen Euro der Papstbesuch in Spanien. Da waren es im tiefschwarzen Spanien schon tausende Jugendliche, die riefen: „Von meinen Steuern null für den Papst!“
So asozial dieser Aufwand angesichts einer Arbeitslosigkeit von 20 Prozent in Spanien ist: Ich fände es nicht richtig, einem Greis, der keinen Tag in seinem Leben je gearbeitet hat, auf seine letzten Jahre noch einen Arbeitsplatz freizumachen, nach dem die Jungen Schlange stehen. Nein, arbeitslos soll er werden, von Hartz IV leben. Und sein ganzer Hofstaat mit. Dann wäre er mit seinem Latein schnell am Ende. Und die Welt hätte eine Ungerechtigkeit weniger.

Montag, 15. August 2011

Notizen aus der Provinzhauptstadt: envio-Skandal - Dienstaufsichtsbeschwerde der LINKEN gegen Staatsanwaltschaft

Der ausführliche und ansonsten zutreffende Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 13.08.2011 - link:
ist leider am Schluß nicht ganz auf dem neuesten Stand: 
Die Einstellung des Verfahrens gegen die Bezirksregierung Arnsberg wegen Amtspflichtverletzung hat die Dortmunder Ratsfraktion DIE LINKE mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Staatsanwaltschaft beantwortet - link:

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Öffentlich gefördertes Lohndumping

Was wir Linken im Dortmunder Stadtrat seit Jahren als neoliberale Stadtpolitik kritisieren, wächst sich inzwischen zu einem gesellschaftlichen Skandal aus.

Wie die Sozialforschungsstelle an der TU Dortmund mehrfach berichtete, ist die überdurchschnittliche Zunahme der Erwerbstätigkeit, die Dortmunds Wirtschaftsförderer gern als ihren Erfolg reklamieren, „nahezu ausschließlich“ – ich zitiere wörtlich – „nahezu ausschießlich auf atypische Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeitarbeit, Minijobs, Leiharbeit) zurückzuführen.“ (Kooperationsinfo Nr. 53 der sfs)

Ich habe das an den amtlichen Statistiken nachgeprüft: Von den 1.850 sozialversicherten neuen Arbeitsplätzen von Mitte 2009 bis Mitte 2010 sind zwei Drittel sogen. „atypische“ oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Während die Zahl der sozialversicherten Vollzeitstellen seit dem Start des Dortmund-Projects vor zehn Jahren in etwa gleich blieb, legten die atypischen Jobs um 42,5 % zu. In dem einen Jahr von Mitte 2009 auf Mitte 2010 stieg die Zahl der prekären Jobs um 3.700 auf 94.562 an. Heute ist schon fast jeder dritte Erwerbstätige in Dortmund prekär beschäftigt (31,5 %). Fast 95.000 Dortmunder-innen, von denen die allermeisten gewiß gern eine feste, abgesicherte, normal bezahlte Arbeit hätten, dürfen stattdessen nur von der Hand in den Mund leben, von heute auf morgen, ohne Perspektive für eine Lebensplanung. Diese 95.000 muß man zu den 46.000 registrierten Arbeitslosen hinzu zählen, um eine Vorstellung zu bekommen, wie verlogen das Gerede vom „Strukturwandel“ ist.

Und die Hälfte der prekär Beschäftigten muß sich mit Niedriglöhnen durchschlagen (die amtliche Niedriglohnschwelle liegt bei 9,85 €/h). Eine Folge ist: Viermal so schnell wie die Erwerbstätigkeit wächst die Zahl der Aufstocker in Dortmund.

Das ist ein gesellschaftlicher Skandal. Unsere Oberschicht scheint keine Skrupel zu haben, sich an die Spitze dieses Skandals zu stellen.

Sogar der sagenhafte Gründungsboom, auf den die Wirtschaftsförderer besonders stolz sind, erscheint in diesem Zusammenhang als Teil des Skandals. Denn unter den 14.000 Aufstockern der Dortmunder ARGE sind auch 1.560 Selbständige, die nach dem Auslaufen der Gründungszuschüsse und Überbrückungsgelder von ihrem Erwerbseinkommen nicht leben können und ergänzendes Arbeitslosengeld beziehen müssen.

Dieser Skandal hat natürlich gravierende Auswirkungen auf das Einkommensniveau und die Kaufkraft in der Stadt. Während die Produktivität der Dortmunder Wirtschaft überproportional wächst, liegt das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der Dortmunder-innen um 12 % hinter dem Bundesdurchschnitt und um 8 % hinter dem NRW-Durchschnitt zurück. Und die Schere öffnet sich von Jahr zu Jahr weiter (Jahresbericht Wirtschaft 2010, Amt für Statistik und Wahlen der Stadt). Ein Schelm wer im Zurückbleiben der Löhne eine Triebfeder des überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums sieht.

Eine Wirtschaftsförderung, die sich öffentlich in die Brust wirft für Stellenzuwächse und dabei hartnäckig verschweigt, dass die meisten Neueingestellten anschließend zur ARGE laufen müssen, um ergänzendes ALG zu beantragen, eine solche Wirtschaftsförderung macht sich zum Komplizen von Abzockern in Nadelstreifen und legt die Axt an die Wurzel der „Sozialen Stadt“. Der Rat hat sie in den zehn Langemeyer-Jahren immer wieder mit breiten Mehrheiten abgenickt, immer gegen unsere Proteste. Aber auch der neue OB zeigt bisher nicht den Willen zu einer Kurskorrektur.

Dabei ist ihre skandalöse Marktgläubigkeit keineswegs alternativlos. Seit das Dortmund-Project läuft, rechnen wir Linken im Rat anhand seiner Jahresberichte vor, dass die 6 Mio € jährlich in einem kommunalen Beschäftigungsprogramm mehr Arbeitsplätze schaffen könnten als im Dortmund-Project. Seit Hartz IV läuft und die Stadt die ganze öffentliche Beschäftigungsförderung auf 1-€-Jobs reduzierte, rechnen wir vor, dass man die 1-€-Jobs ohne einen Euro Mehraufwand in sozialversicherte Stellen umwandeln kann, und zwar zu einem existenzsichernden Mindestlohn von 10 €/h und ohne alle Schikanen von Fallmanagern. Wenn man nur will.

Freitag, 12. August 2011

Am teutschen Wesen...

Kaum zu glauben: Der britische Premier droht der wütenden arbeitslosen Jugend
die Armee auf den Hals zu hetzen – Bürgerkrieg würde man das nennen, wenn es in Afrika oder Lateinamerika stattfindet – da wie dort zum Schutz der Freiheit der „City“, sich am Elend plattgemachter Industriereviere zu bereichern. Unrecht gegen Unrecht, die kleinen Plünderer machen es den großen Plünderern am Gemeinwohl nach. Auf der Strecke bleibt mit dem friedlichen Zusammenleben also die Demokratie. Militärgewalt als Kehrseite der Spekulationsökonomie, da wie dort.

Der nächste logische Schritt muß sein, die vom Neoliberalismus ruinierten Stadtteile einzumauern und sich selbst zu überlassen. Denn die oberen Zehntausend haben weiß Gott im Moment größere Sorgen, als sich mit kleinen Plünderern zu prügeln – der Euro brennt! Das System der kollektiven Plünderung geht im Staatsschuldensumpf unter!

Während die Sensationsmedien noch in Englands rauchende Ruinen starren und das britische Bürgertum Rache an seiner ungehorsamen Jugend nimmt...
...richten Europas Börsenzocker die Blicke auf – Berlin. George Soros, einer ihrer Obergurus sieht in der Reichsverweserin der Deutschen Bank AG, Angela Merkel, eine Hauptschuldige für die aktuelle Zuspitzung: „Die Eurokrise hatte ihren Ursprung in der Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, für Zahlungsausfälle nicht die Europäische Union, sondern jeweils die einzelnen Länder bürgen zu lassen. Und es war das deutsche Zögern, das die Griechenland-Krise verstärkte und zu der Ansteckung führte, die sie in eine Existenzkrise für Europa verwandelte.“ (Handelsblatt 12.08.11)
Die eher linksliberale französische Zeitschrift Le Monde Diplomatique warnt, die „neue national verengte Haltung Deutschlands“ drohe die Eurozone zu sprengen: „Sobald das Thema ‚Rettung vor einem Staatsbankrott‘ auftaucht, liefert Angela Merkel eine einstudierte Pantomime ab, die ihren Unwillen zu weiteren deutschen Zahlungen ausdrücken soll... Wenn sich die europäische Geldpolitik nach den deutschen Interessen richtet, werden die riesigen strukturellen Ungleichgewichte nur noch weiter anwachsen. Dann aber müssen die Deutschen entweder für die Korrektur dieser Ungleichgewichte zahlen oder sich damit abfinden, dass der Euro nicht primär den deutschen Interessen dient. Sollten sie beides ablehnen, kann der Euro nicht überleben.“ (zitiert nach www.nachdenkseiten.de)

Das linke Neue Deutschland hingegen erinnert sich beim Stichwort „einmauern“ prompt an die Berliner Mauer und zieht aus deren Scheitern einen wahrhaft treuherzigen Kurzschluß: „Nur durch eine friedliche Wende – unter Nutzung auch linksreformerischer Ideen – wird sich die Demokratie halten können. Einen Kurswechsel innerhalb der herrschenden Klasse – nicht weniger ist verlangt.“ (ND 11.08.11, Seite 15)
Das nennt man wohl „den Bock zum Gärtner machen.“ Der Bock, in Gestalt des deutschen Wirtschaftsministers, hat derweil nichts eiligeres zu tun, als sich neue deutsche Spardiktate für alle Euroländer auszudenken, um sie dem deutschen Kapitalexport zu öffnen. Weil das doch in Griechenland so gut klappt.

Donnerstag, 11. August 2011

Ein Programm für linke Mehrheiten?

Annäherung an das neue Programm der LINKEN
In einer demokratisch verfassten Gesellschaft gilt eine Parteistrategie als erfolgreich, der es gelingt, die Interessen der Parteianhängerschaft in politische Mehrheiten umzusetzen. Und diese sollten auf längere Sicht gesellschaftliche Mehrheiten abbilden. So will es die Theorie. Die Praxis stellt sich komplizierter dar.

Klassenpartei oder Arm gegen Reich
Zwar lassen sich auf zentralen politischen Konfliktfeldern durchaus Mehrheitsinteressen ablesen, die die LINKE vertritt – so z.B. die Ablehnung des Afghanistankriegs, der Atomenergienutzung, der Hartz-Gesetze – aber derlei Einzelaspekte ergeben in der Summe noch kein Gesamtbild der grundlegenden Interessen, welche die Gesellschaft prägen. Wohl kann man sie alle irgendwie auf den grundlegenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zurückführen. Für das Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Mechanismen ist das unverzichtbar. Folglich wurde in den neuen Programmentwurf ein Abschnitt „Deutschland – eine Klassengesellschaft“ eingefügt. Wenngleich die darin gebotene Analyse noch Mängel aufweist, bedeutet sie einen wesentlichen Fortschritt im Erkenntnisprozess der jungen Partei.

Aber für die Strategie der linken Bewegung ist es heutzutage – mit dem Schrumpfen der Industrie zugunsten von Dienstleistungen und der De-Industrialisierung weiter Regionen  - innerhalb wie außerhalb der Partei umstritten, ob die Interessen der Arbeiterschaft noch gleichzusetzen sind mit denen der Gesellschaftsmehrheit.

Indessen zeigt der Kapitalismus eine unbestreitbare Tendenz zur Steigerung der Ausbeutung sämtlicher Ressourcen in einem Ausmaß, das die ganze Gesellschaft bedroht. Sie stellt sich heute vor allem dar als krisenhafter Gegensatz zwischen der Bereicherung von Finanzinvestoren und der Verarmung und Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse bis weit in die Mittelschichten hinein. Daraus ergibt sich tatsächlich ein Mehrheitsinteresse an der Aufhebung dieses grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruchs, als Kern des zeitgemäßen linken Programms. Alle partiellen Klasseninteressen müssen sich in ihm „aufheben“ und stehen nur noch dem entgegengesetzten Interesse der „Reichen“, „Wettbewerbsgewinner“, „Ausbeuter“, „Abzocker“ gegenüber. Ebenso verhält es sich mit dem beschleunigten Raubbau der Rohstoffe und der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Allerdings erscheint die Überwindung des Kapitalismus auf absehbare Zeit bei uns nicht mehrheitsfähig. Statt einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft wünscht sich die Mehrheit einen gezähmten, moderaten, staatlich regulierten Kapitalismus als sozial gerechten Kompromiß. Eine Partei, die aus Einsicht und Verantwortung auf der antikapitalistischen Perspektive beharrt, wird dafür lange keine Mehrheit finden. Das LINKE-Programm versucht diesen Spagat durchzustehen, und das ist gut so.

Braucht Deutschland eine neue Sozialdemokratie ?
Auf die programmatische Leitidee des „demokratischen Sozialismus“ hat DIE LINKE kein Copyright. Der Begriff diente der SPD zuerst in den zwanziger Jahren zur Abgrenzung gegenüber dem „stalinistischen“ Kommunismus und wurde nach 1945 gleichbedeutend mit „sozialer Demokratie“ in die SPD-Programme übernommen.

Kein Zweifel, die SPD hat seither dramatisch an gesellschaftlichem Rückhalt verloren. Und mit ihr der demokratische Sozialismus. Die Ursache liegt nicht nur darin, dass die Industriearbeiterschaft, auf die sie sich anderthalb Jahrhunderte lang hauptsächlich bezog, seit Jahrzehnten an Bedeutung verliert, die Stammbelegschaften der Großindustrie schmelzen ab – Leiharbeiter und andere prekär Beschäftigte sahen sich ohnehin nie von der SPD vertreten – parallel zur ehemaligen Arbeiterpartei erodiert die Mitgliederbasis der Gewerkschaften usw.

Eine weitere wesentliche Ursache liegt vielmehr darin, dass die SPD-Führung unter Gerhard Schröders Parteivorsitz und Kanzlerschaft offen vom Inhalt der „sozialen Demokratie“ abrückte: Einhundert Jahre lang hatte die SPD durch alle Krisen und Katastrophen hindurch an der Verheißung festgehalten, auf demokratischem Wege den Interessengegensatz von Kapital und Arbeit in einem für beide Seiten annehmbaren sozialen Kompromiß zu versöhnen, und hatte damit die Hoffnungen von Millionen auf sich gezogen. Doch nun lief der „Genosse der Bosse“ an der Spitze der Müntes, Steinbrücks und -meiers, Gabriels offen auf die Seite der Hartze und Ackermänner, des großen Kapitals über. Seither ist die Hoffnung auf einen gezähmten, gemäßigten, sozial gerechten, demokratisch über den Klassen stehenden Kapitalismus parteipolitisch heimatlos geworden.

Die LINKE besitzt gute Chancen, im Wettbewerb um das Erbe des Reformismus, auch nach der halbherzigen Kurskorrektur der SPD unter Gabriel und Nahles, weiter an Boden zu gewinnen. Allerdings muß sie gründlich darüber nachdenken, was sie damit eigentlich gewinnt.

Eine simple Rückkehr ins sozialdemokratische Zeitalter ist unmöglich geworden. Der Kapitalismus hat sich seit den 70er Jahren weiter entwickelt. Er hat nicht nur den „Sozialstaat“ in den „Wettbewerbsstaat“ transformiert, sondern die ganze Gesellschaft einem Strukturwandel unterworfen. Die Arbeiterklasse hat er nach Arbeits- und Lebensbedingungen vielfach zersplittert. Das hat Auswirkungen auf politische Orientierungen. Kurzfristig bedeutet es: Selbst wenn man die Grünen im politischen Spektrum noch links einordnet – wofür nicht mehr allzuviel spricht – hatten SPD, Grüne und LINKE zusammen bei der letzten Bundestagswahl keine Wählermehrheit. Sie müßten sich schon auf ein sehr überzeugendes, attraktives Reformprojekt einigen, um in erheblichem Umfang enttäuschte Wähler/-innen wieder an die Wahlurnen zurück zu holen. Ob und wann SPD und Grüne dazu noch zu gewinnen wären, erscheint ungewiss.

Dabei lägen auch jetzt einige sozialdemokratische Forderungen im Interesse der Gesellschaftsmehrheit, z.B. eine Re-Regulierung des Finanzsektors, strengere Bankenaufsicht, Verbot besonders riskanter Spekulationsgeschäfte, dauerhafte Verstaatlichung von Pleitebanken, kurz: alles was die Gefahr neuer Spekulationsblasen mindert und die Krisenfolgen für Beschäftigung, Masseneinkommen und Sozialtransfers mildert. Insofern kann man bejahen, dass Deutschland eine sozial – demokratische Reformpolitik braucht, und zwar solange, wie es am kapitalistischen Krisensystem festhält. Die LINKE tut gut daran, solche Reformforderungen in ihr Programm aufzunehmen und SPD und Grünen die gemeinsame Durchsetzung vorzuschlagen.

Zum andern, auf mittlere Sicht verbessert der Kapitalismus selbst die Voraussetzungen für künftige rosa-grün-rote Mehrheiten, indem er immer größere Teile der Gesellschaft in ihren Existenzgrundlagen bedroht.

Ein Reformkonzept gegen diese Bedrohung kann bei der einfachen Wiederinstandsetzung der alten sozialstaatlichen Sicherungen nicht stehen bleiben. Diese sind schon heute nicht mehr wie früher allein aus der Lohnarbeit zu finanzieren (die paritätische Beitragsfinanzierung verschleierte das bloß), dafür müssten ab sofort die Reichen und Privilegierten zur Kasse gebeten werden. Es ist fraglich, ob und wann unter dem wachsenden Druck der Krisen SPD und Grüne hierzu bereit sein werden – heute sind sie es nicht.

Aber mehr als so ein Reparaturbetrieb zur Linderung der Not, mehr als die zeitweise Begrenzung der Krisengefahren und –folgen kann sozialdemokratische Politik nicht leisten. Das ist keine Frage des Wollens. Denn niemals würden die Wirtschaftsbosse gütlich-friedlich auf die Ausbeutung fremder Arbeit verzichten, ist sie ihnen doch von Staats und Rechts wegen zugesichert. Denn es ist ihr Staat, er gehört ihnen, schützt und exekutiert ihr bürgerliches Recht auf Bereicherung. Seit dem Revisionismusstreit in der SPD um die Wende zum 20. Jahrhundert lag ein Wesensmerkmal der Sozialdemokratie immer darin, diesen Klassencharakter der Staatsmacht zu verschleiern.

Das neue Programm der LINKEN macht hier ganz sozialdemokratisch weiter. Und das ist nicht gut so. Wer den Kapitalismus überwinden und durch eine sozial gerechtere, friedliche und ökologisch nachhaltige Gesellschaftsordnung ablösen will, wie es die LINKE vorhat, muß von Illusionen über den Staat und die Macht Abschied nehmen. Da lässt dies Programm auch in seiner letzten Fassung jegliche Klarheit vermissen. Denn darauf hat die Partei keine konsensfähige Antwort. Es reicht da nicht aus, dem Stalinismus abzuschwören, da muß man sich unvoreingenommen und schonungslos mit dem modernen Staatswesen auseinander setzen, wie Marx und Engels es uns vormachten. Solange maßgebliche Kreise der Partei dazu nicht bereit sind, stößt hier die kollektive Weisheit auf die Grenze des Pluralismus. Mit dem Ergebnis, dass zu diesem entscheidenden Punkt der Staatsmacht das Programm nicht mehr bietet als Schönfärberei und fromme Wünsche.

Noch aus einem anderen Grund erscheint fragwürdig, wem mit einer Neuauflage des sozialdemokratischen Projekts gedient wäre. Deutschland gehört zu den Ländern, deren herrschende Kreise sogar von den aktuellen und absehbaren Katastrophen des globalen Kapitalismus noch profitieren, und zwar zunehmend zu Lasten anderer Völker. Das gegenwärtige Krisenszenario bestätigt schlagend die hundertjährige Erfahrung, dass in solchen „imperialistischen“ Staaten die Mehrheit der Gesellschaft sich durch Medienpropaganda und allerlei kleine Vorteile für die Ausplünderung, Bevormundung und sogar militärische Unterwerfung anderer Länder in Stellung bringen lässt, nicht zuletzt mit Hilfe sozialdemokratischer Burgfriedenspolitik. Es gehört heute keine großartige Weitsicht mehr zu der Voraussage, dass das 21. Jahrhundert eine Epoche zunehmender Aufstände und „asymmetrischer“ Kriege gegen die globalen Unterdrückermächte wird. Dazu genügt schon der Realismus des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, der den sozialdemokratischen Burgfrieden mit dem Kapital auf die zeitgemäße Formel brachte, Deutschland werde heute am Hindukusch verteidigt. – Und in Libyen, nicht wahr Herr Gabriel, Frau Nahles?

Seitdem muß klar sein, auf welche Seite in diesen Konflikten linke Parteien sich nur stellen können, die weltweit als Linke bestehen wollen: Nicht auf die Seite von Bundeswehr-, NATO- oder EU-Einsätzen, unter welchem „robust humanitären“ Mandat auch immer. Für diese Sicht der künftigen Entwicklungen wird sich jedoch lange keine gesellschaftliche Mehrheit in Deutschland finden. Da muß die LINKE in der Tat wählen zwischen „Regierungsfähigkeit“ und Linksbleiben. Unsere eigenen Burgfriedenspolitiker haben es immerhin wieder nicht geschafft, die Friedensbarrikade der LINKEN aus dem Weg zu räumen. Ein dicker Pluspunkt für das Programm.

Massenbewegung, Opposition, Regierungsbeteiligung
Wie sich schon zur Landtagswahl in NRW 2010 zeigte, steht die Linke vor dem Dilemma, dass ein entschieden sozial-ökologisches Reformprogramm wohl gesellschaftliche Akzeptanz, aber ohne einen gehörigen Linksschwenk von SPD und Grünen keine parlamentarische Mehrheit findet, und dass einem darüber hinausgehend antikapitalistischen Programm auf absehbare Zeit die breite Basis in der Bevölkerung fehlt.

Aus diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg. Die Menschen müssen wieder lernen, Apathie, Resignation und mediale Verdummung zu überwinden und ihre Interessen selbst zu vertreten. Parteien können entsprechende Ansätze von Massenbewegungen unterstützen und befördern, aber wegen ihrer Einbindung in den parlamentarischen Betrieb, ihrer engen Verflechtungen mit der Staatsmacht taugen sie selbst schlecht als Gefäße der Massenorganisation.

Daraus ergeben sich zwei klare Kriterien für das Verhältnis der LINKEN zu außerparlamentarischen Bewegungen einerseits und zu möglichen Regierungseintritten andererseits:
1. Weg von parlamentarischer Stellvertreterpolitik ohne Massenbasis, hin zur aktiven Unterstützung von Basisinitiativen.
2. Regierungsbeteiligung nur unter der Bedingung, dass sie von einer breiten, lebendigen, selbstbewußten außerparlamentarischen Basis getragen, inhaltlich bestimmt und kontrolliert werden kann.

Beide finden sich im Programm nur ungenügend wieder. Mit dem erst genannten Kriterium können wir sofort unmittelbar arbeiten. Es muß zu den Standardaufgaben jedes sich „links“ verortenden Menschen gehören, in sozialen und / oder ökologischen Bewegungen aktiv mitzumischen. Erst wenn auf diesem Weg ein gesellschaftlicher Klimawandel spürbar wird, macht ein Regierungseintritt der LINKEN Sinn.

Dagegen markiert der Streit um die Formulierung „roter Haltelinien“ im Programm, also unverhandelbare Grenzen linker Regierungsbeteiligung, eigentlich schon die Kapitulation der Partei vor Leuten, die sich lieber heute als morgen auf jeden Ministersessel drängen möchten.

Die gesamte bürgerliche Meinungsmache, aber auch manche LINKE-Vertreter tun so, als ob gesellschaftliche Interessen sich nur von der Regierungsbank herunter durchsetzen ließen. Eine solche Darstellung vernebelt das Wesen von Politik. Und sie entmündigt die breite Masse der unorganisierten Menschen zu passivem Stimmvieh. Alle politischen Veränderungen stehen zuerst in Opposition zum Althergebrachten und müssen aus der Opposition heraus das gesellschaftliche Klima schaffen, in dem sie zur Mehrheitsforderung werden. Erst dann rückt ihre staatliche Ausführung auf die Agenda. Erst dann ist eine linke Regierungsbeteiligung herangereift. Erst dann haben wir die Grundlage dafür, dass Regierungsbeteiligung uns nicht bloß zurück wirft auf den seit 100 Jahren immer gescheiterten sozialdemokratischen Versuch, den Tiger zu reiten. Auch die LINKE könnte daran nur scheitern.

Mein Fazit

Trotz schwerwiegender Mängel bestärkt dies Programm reformorientierte Linke ebenso wie Marxist-innen, in der LINKEN und mit ihr zusammen zu arbeiten. Kein anderes heute greifbares Parteiprogramm bietet mehr Aussicht auf realen gesellschaftlichen Fortschritt.

Dienstag, 9. August 2011

Einen Sparhaushalt tolerieren oder Neuwahlen riskieren?

Schon vor der Verabschiedung des Nachtragshaushalts für 2010 ging es im nordrhein-westfälischen Landesverband der Linkspartei hoch her und kontrovers zur Sache: Die Landtagsfraktion entschied sich anders als vom Landesvorstand und dem Landesrat empfohlen und stützte die Minderheitsregierung durch ihre Stimmenthaltung. In Kürze steht uns wieder derselbe Streit um den Haushalt 2012 bevor. Am 10. September soll der Landesparteitag ein Votum abgeben. Dazu die folgenden Denkanstöße.

Wie wichtig ist für Linke das Arbeiten im Staatsapparat?

Darüber streiten die Linken in der Arbeiterbewegung seit 150 Jahren. Aufgrund aller praktischen Erfahrungen dieser 150 Jahre sehe ich den entscheidenden Grund für die Parlamentsarbeit von Linken, ebenso wie für ihre Beteiligung an bürgerlichen Regierungen, ebenso für die Übernahme verantwortlicher Staatsämter nicht darin, dass man von dort aus etwa den Sozialismus verordnen könnte – sondern entscheidend ist die öffentliche Beachtung, die Linke in öffentlichen Ämtern für ihre Ideen finden. Parteien, die nicht wenigstens Parlamentsdebatten aufmischen, werden von den bürgerlichen Medien höchstens mit Skandalgeschichten totgeschlagen, ansonsten aber totgeschwiegen.

Das kleinere Übel stützen?

Wenn man sich damit zufrieden gibt, dass SPD und Grüne ja nicht ganz so schlimm seien wie die schwarz-gelbe Konkurrenz, dann macht man die Erfahrung, dass der Abstand des kleineren Übels zum nächst größeren immer mehr oder weniger rasch dahin schmilzt. Bis die Wähler-innen finden: „Wenn SPD und Grüne sich kaum mehr von Schwarz-Gelb unterscheiden, tausche ich doch gleich die Kopie gegen das Original aus!“ Die Taktik, das kleinere Übel zu stützen, bietet also für linke Politik mittel- und langfristig keine Perspektive. Sie allein würde es nicht rechtfertigen, einen unsozialen Landeshaushalt passieren zu lassen.

Die Regierung tolerieren, um „mitzugestalten“?

Das eine und andere Positive hat unsere tapfere kleine Landtagsfraktion in ihrem ersten Jahr schon erreicht, z.B. Nachbesserungen beim Kinder-Bildungsgesetz (KIBIZ), mehr Geld für die Kommunen, Verbesserungen im Vergaberecht für öffentliche Aufträge, Rücknahme geplanter Kürzungen für Sozialeinrichtungen und die Möglichkeit zur Abwahl von Bürgermeistern und Landräten gingen auf ihre Initiative und ihren Druck zurück. Das beweist, dass auch eine informelle Tolerierung durchaus als politisches Druckmittel zur „Mitgestaltung“ der Politik einer SPD-grünen Minderheitsregierung genutzt werden kann.
Die entscheidende Frage dabei ist: Werden die kleinen Erfolge der LINKEN von den Wähler-innen überhaupt registriert oder dem Konto von SPD und Grünen gutgeschrieben? Und wie hoch bewerten die Menschen sie im Verhältnis zu ihren eigenen drängenden Problemen?
Damit verbindet sich die spiegelverkehrte Fragestellung:

Wie hoch ist der Preis, den die LINKE für das bißchen Einfluß zahlt?

Wenn in der heutigen Lage in NRW unsere Landtagsfraktion den Haushaltsplan der Regierung ablehnt, dürften SPD und Grüne wohl die Flucht in Neuwahlen suchen. Und wenn die Umfragewerte so blieben wie im Moment, besteht die Gefahr, dass DIE LINKE die 5-%-Hürde reißt. Dann hätte sie sich selbst aus dem Landtag gekickt.
Nun ist wie gesagt nach meinem Dafürhalten die Teilnahme am bürgerlichen Staatsbetrieb einschließlich seiner Wahlämter für Linke kein Selbstzweck. Aber dass wir freiwillig wieder in die öffentliche Nichtbeachtung abtauchen, würde die Mehrzahl unserer Wähler-innen wohl nur dann verstehen und billigen, wenn wir sehr präzise und überzeugend begründen, warum Linke den Landeshaushalt 2012 auf keinen Fall tolerieren können. DIE LINKE muß sich folglich gut überlegen, welche „Haltelinien“ – sprich: Bedingungen, die nicht preisgegeben werden dürfen – sie sich selbst für ihre Entscheidung setzt.

Dann allerdings, wenn unsere Bedingungen von breiten Teilen der Bevölkerung verstanden und gutgeheißen werden, besteht sehr wohl die Chance, dass wir gerade mit dieser Taktik aus der Neuwahl gestärkt herausgehen. Das will gut abgewogen sein.

Weil aber, wie meistens im Leben, der Teufel im Detail steckt und die Landesregierung die Details ihres Sparhaushalts erst gegen Jahresende bekannt geben will, kann der LINKE-Parteitag im September eigentlich nur allgemeine Grundsätze beschließen. Doch schon daran wird sich zeigen, ob die Fraktion anders tickt als die Partei (-tagsmehrheit.).

Sonntag, 7. August 2011

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Arbeitsplätze am Flughafen retten?

Als es im Dortmunder Stadtrat um die Verlängerung der Flugzeiten über den Schlafzimmern im Süden der Stadt ging, versuchte ein sozialdemokratischer Lobbyist des Flughafens mit gewaltigem Feldgeschrei, den Flughafengegnern die Gefährdung tausender Arbeitsplätze anzuhängen. Hier die Antwort eines bekennenden Gewerkschaftsmitglieds.

Bei 45.000 Arbeitslosen in Dortmund wiegt der Vorwurf, Arbeitsplätze zu gefährden, schwer. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Flughafenlobby die Beschäftigten des Flughafens und der Dienstleister drum herum nur gegen die 45.000 Arbeitslosen und gegen alle 200.000 Beschäftigten in Dortmund ausspielt.

Seit 2004 (Einstieg in die Billigfliegerei ab Dortmund) haben die Stadtwerke den Flughafen mit über 200 Millionen € subventioniert. Das heißt, jeder einzelne Arbeitsplatz der Flughafengesellschaft wurde mit 700.000 € gestützt. Kein anderes Dortmunder Unternehmen hat auch nur annähernd so viele öffentliche Subventionen erhalten, ganz gleich wie existenzgefährdet es war und ist. Die Unternehmensinsolvenzen stiegen 2010 auf ein neues Rekordhoch. Dabei gingen in Dortmund über 1.000 Arbeitsplätze verloren, beinah viermal so viele wie die Flughafengesellschaft beschäftigt.

Die gesamte städtische Wirtschaftsförderung verfügt über ein Jahresbudget von 11,5 Millionen €, zur Unterstützung aller Dortmunder Wirtschaftsbetriebe. Mal abgesehen davon, dass die Hälfte dieser 11,5 Mio nach Meinung der Linken sinnlos verpulvert wird: Ein einziges Unternehmen aber, der Flughafen, erhält allein doppelt soviel an Hilfen wie 50.000 Firmen zusammen! Ist das gerecht? Ist das auch nur volkswirtschaftlich vertretbar?

Die Arbeitsagentur/ARGE hat im Jahr etwa 70 Millionen € für die Wiedereingliederung von Arbeitslosen zur Verfügung. Die Stadt Dortmund hat nach Einführung von Hartz IV (2005) ihre eigene Beschäftigungsförderung auf null herunter gefahren, in ihren Ämtern und Eigenbetrieben baut die Stadt Jahr für Jahr mehrere hundert Stellen ab. Angeblich aus Geldmangel – aber für den Flughafen haben die Stadtwerke (100-prozentige Tochter der Stadt) jährlich mehr als 20 Millionen € Verlustausgleich übrig. Das alles mit den Stimmen der Sozialdemokratie im Stadtrat.

Diese einmaligen Privilegien des Flughafens bezahlt die ganze Dortmunder Bevölkerung. Das heißt, in erster Linie alle übrigen Arbeitnehmer in Dortmund. Und sogar die 45.000 Arbeitslosen müssen Jahr für Jahr durchschnittlich 75 Euro pro Kopf abdrücken – damit die Beschäftigten am Flughafen weiter ihre Dumpinglöhne erhalten können. Ist das gerecht und solidarisch, „Kollegen“ Sozis?

Liegt es überhaupt im Interesse der Beschäftigten, wirklich jeden Arbeitsplatz zu erhalten? Egal wie teuer ihn die Allgemeinheit bezahlen muss (nicht die Unternehmer und Manager!), egal wie umweltschädlich der Betrieb ist, egal wie unverträglich die Arbeitsbedingungen? Führen wir dann auch die Todesstrafe wieder ein, um Arbeitsplätze für Henker zu sichern?

Die besonders hohen Klimaschäden des Flugverkehrs haben sich allmählich herumgesprochen. Daran ändert auch die verdummende Reklame vom „Ökoflughafen Dortmund“ nichts. Weniger bekannt ist, dass die meisten Firmen am Flughafen ausgesprochen niedrige Löhne zahlen und miese Arbeitsbedingungen bieten. So hatte die städtische Tochter „Flughafen Dortmund GmbH“ schon 2005 eine Servicegesellschaft ausgegründet eigens zu dem Zweck, den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes zu unterlaufen – übrigens mit dem Segen der Sozialdemokratie im Stadtrat, gegen die Stimmen der Linken! Sind auch solche Lohndrücker-Arbeitsplätze es wert, verteidigt zu werden?

Ich meine, nicht nur alle Dortmunder Arbeitenden und Arbeitsuchenden, sondern sogar die Flughafen-Beschäftigten selbst hätten mehr davon, wenn die Stadt die Subventionsruine Flughafen endlich zurück baut, die Immobilie gewinnbringend umnutzt und die jährlich mehr als 20 Millionen € Verlustausgleich für sinnvolle, reguläre, existenzsichernde, sozialverträgliche Ersatzarbeitsplätze ausgibt. Vorschläge dazu liegen seit Jahren auf dem Tisch. Kein einziger Beschäftigte des Flughafens würde dabei ins Bergfreie fallen. Verhindert wird das von der Wirtschaftslobby, die die Billigfliegerei als Wettbewerbsvorteil nutzt und ihre Kostensenkung von der Allgemeinheit bezahlen lässt.

Dienstag, 2. August 2011

Bedingungsloses Grundeinkommen: Arbeiter wollen arbeiten

Der neue Programmentwurf der LINKEN bezieht im Streit um ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) bewusst keine Position, sondern fordert die Partei zu weiterer Diskussion darüber auf. Tatsächlich „tobt“ dieser Streit auch innerhalb der LINKEN zwischen extremen Positionen, die mitunter emotionsgeladen aufeinander losgehen. Dieser Beitrag soll die Diskussion versachlichen, soweit möglich.

Hängen Leistung und Lebensqualität zusammen?
Angeblich leben wir in einer Leistungsgesellschaft. Aber die persönliche Leistung ihrer Mitglieder misst sie nicht am Nutzen der Arbeitsprodukte, sondern in Geld, am individuellen Beitrag zum „Bruttoinlandsprodukt“, einer statistischen Wertsumme. Mit diesem Kniff wird der Irrtum zur Gewohnheit, dass Bankchef Ackermann, indem er die Arbeitsergebnisse von Millionen Menschen verwertet, angeblich millionenfach mehr leistet als jeder Arbeiter. Während umgekehrt z.B. das Verfassen dieses Textes nur dann als Leistung gelten würde, wenn er mir Geld einbrächte, ebenso gilt der große Sektor der Hausarbeit dieser Gesellschaft nicht als Leistung. Der gesunde Menschenverstand findet das absurd. Doch diese alltägliche Verballhornung des Leistungsprinzips darf uns nicht darüber täuschen, dass jede Gesellschaft ihre Lebensqualität vor allem er-arbeiten muss. So war es immer seit es Menschen gibt, und so bleibt es bis an die Schwelle zum Schlaraffenland.

Gilt das auch für das Existenzminimum?

Wenn also alles, was wir „uns leisten können“, Ergebnis geleisteter oder noch zu leistender Arbeit ist, wenn also unser gesamtes Wohlstandsniveau direkt mit der gesellschaftlichen Produktion wächst, so hat heute die gesellschaftliche Arbeit eine so hohe Produktivität erreicht, dass auf der ganzen Erde kein Mensch mehr hungern müsste. Mehr noch, unsere Gesellschaft produziert laufend so großen Reichtum, dass daraus locker jeder Einzelne seine Arbeitsfähigkeit erwerben und erhalten könnte. So wäre heute das zeitgemäße Existenzminimum zu definieren. Es deckt sich im Kapitalismus mit dem Durchschnittslohn (plus „Lohnnebenkosten“) für einfache, unqualifizierte Arbeit. Dies Existenzminimum jedem als Grundeinkommen zu garantieren, ist heute nur noch eine Frage des politischen Willens zu entsprechender Verteilung der Arbeitsergebnisse.

Grundeinkommen und Gerechtigkeit
Dass unser Lebensstandard vor allem auf Arbeit beruht, weiß niemand besser als alle, die von ihrer eigenen Arbeit leben (-dürfen, muss man heute wieder hinzufügen). In ihren Augen, aus Jahrtausende alter Erfahrung gilt ein leistungsloses Einkommen als ungerecht, unmoralisch, jedenfalls suspekt.
Im Kapitalismus gibt es aber zwei verschiedene Arten leistungsloser Einkommen: Die eine beruht auf dem kapitalistischen Eigentum, das aus der Aneignung unbezahlter „Mehrarbeit“ von Lohnabhängigen entsteht – die andere betrifft Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht arbeiten können. Es liegt auf der Hand, dass diese zwei Arten leistungsloser Einkommen ganz verschieden behandelt werden müssen. Somit ergeben sich folgende Kriterien für einen Anspruch auf ein staatlich zu zahlendes Grundeinkommen:
1. Leuten, die fremde Lohnarbeit ausbeuten, obendrein noch ein staatliches Grundeinkommen nachzuwerfen, wäre wohl der Gipfel der Ungerechtigkeit.
2. Allen, die das Existenzminimum (siehe oben) mit eigener Arbeit bestreiten, stattdessen ein staatliches Grundeinkommen auszureichen, wäre unsinnig. Sind sie es doch selbst, die mit ihrer Arbeit die Staatseinnahmen erwirtschaften, aus denen die Grundeinkommen bezahlt werden; was die Arbeitenden als Grundeinkommen erhielten, müssten sie über ihre Steuern selbst finanzieren. – Absurd wäre das auch nach der marxistischen Arbeitswerttheorie, in der ja die durchschnittliche Lohnhöhe sich auf den Betrag einpendelt, den die Reproduktion (Wiederherstellung) der Arbeitskraft gesellschaftlich kostet: Wenn diese Reproduktionskosten statt ganz als Arbeitslohn vom Arbeitgeber zum Teil vom Staat als Grundeinkommen gezahlt werden, müssen die Löhne durchschnittlich genau um diesen Betrag sinken – ein gigantisches Lohnsenkungsprogramm zum Wohle der Unternehmer!
3. Sinnvoll und gerecht ist ein staatliches Grundeinkommen allein für Menschen, die entweder gar nicht arbeiten können/dürfen, oder deren Arbeitseinkommen aus individuellen Gründen unterhalb des oben definierten Existenzminimums bleibt. Unabdingbare Voraussetzung hierfür wären allerdings flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne zur Bekämpfung des Lohndumpings!

Grundeinkommen unter einer einzigen Bedingung
Menschen, die nicht arbeiten können/dürfen, auch noch mit Repressalien und Sanktionen zu bestrafen, sollte sich in einer humanen Gesellschaftsordnung eigentlich von selbst verbieten. Umgekehrt disqualifiziert das Hartz-IV-Regime unsere gegenwärtige Gesellschaft als inhuman. Um über diese eklatante Inhumanität hinweg zu täuschen, diffamieren unsere Meinungsmacher diese Menschen wider besseres Wissen als arbeitsscheu. Für diese Menschen darf das Existenzminimum als individueller Rechtsanspruch an keinerlei Bedingung geknüpft sein.
Allerdings nur für solche Menschen. Daher ist die einzige Bedingung, die man im Namen der Mehrheit stellen muss, die das Grundeinkommen mit ihrer Arbeit finanziert: Der Staat hat alles mögliche zu tun, um Menschen in Arbeit zu bringen, mit der sie ihr Existenzminimum selbst aufbringen können. 
Dazu gehört unbedingt die Ausweitung der öffentlichen Dienstleistungen auf sämtliche Bereiche der Daseinsvorsorge. Und dazu gehört, neben dem kapitalistischen Arbeitsmarkt, ein breiter öffentlich geförderter Beschäftigungssektor. Und dazu gehört ein repressionsfreies Fördern der Arbeitsfähigkeit, ohne "Fordern" und Zwangsarbeit. Denn wie selbst die Arbeitslosenverwaltung mehrfach bestätigte, ist die Zahl ihrer „faulen Kunden“ viel zu gering, um ein Sanktionsregime zu rechtfertigen.
Ohne diese Bedingung, die sich an den Staat und nicht an die Betroffenen richtet, wäre jedes BGE kaum besser als der jetzige Zustand.

Montag, 1. August 2011

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Ein LINKES Gegenkonzept zum neoliberalen Stadtumbau

am Beispiel Dortmund-Hörde
Der Dortmunder Stadtteil Hörde war jahrhundertelang bis zu seiner Zwangseingemeindung nach Dortmund (1928) die einzige reichsfreie Stadt neben Dortmund auf dem heutigen Dortmunder Siedlungsgebiet. Diese herausgehobene Stellung hat der Hörder Stadtgestalt ebenso wie der Mentalität des Hörder Menschenschlags ein eigenes, unverwechselbares kulturelles und wirtschaftliches Profil aufgeprägt. Ab 1840 wandelte sich dies Profil von der mittelalterlichen Ackerbürgerstadt zur zweitwichtigsten Produktionsstätte der Montanindustrien in Westfalen neben der Dortmunder Nordstadt. Nach dem Abzug des Bergbaus und der Stahlindustrie aus Dortmund gegen Ende des 20. Jahrhunderts fielen riesige Flächen in unmittelbarer Nachbarschaft des Hörder Stadtzentrums brach, verloren Tausende Hörder Familien ihren Broterwerb, verlor die Hörder Altstadt ihre wirtschaftliche und kulturelle Identität. Etwa seit dem Jahr 2000 versucht die Politik, im Rahmen des von ihr gefeierten „Strukturwandels“ Dortmunds von der Industriestadt zur „wissensbasierten Dienstleistungsmetropole“, dem Stadtteil Hörde eine neue Perspektive zu geben. Und zwar vor allem mithilfe zweier Groß-Spekulationsprojekte: Phoenix West als Gewerbestandort für Hitech- und „Kreativwirtschaft“ und Phoenix See als überregional ausstrahlendes Erholungs- und Wohngebiet der Spitzenklasse mit neuem Dienstleistungszentrum.

Um diese Spekulationen so richtig zur Goldgrube zu machen, hat die Stadtspitze sie jetzt um eine „Fortschreibung des städtebaulichen Entwicklungskonzeptes“ ergänzt, die der Stadtrat im Dezember 2010 gegen die Stimmen der Linksfraktion billigte. DIE LINKE hat dem eine fundierte Kritik sowie ihre eigene Vision einer sozialverträglichen, gemeinwohl-orientierten und kulturgeschichtlich sensiblen Stadterneuerung entgegen gestellt.

Kritik des Stadtumbaukonzepts
Wer sich die Erneuerung alter Ortskerne im Kapitalismus als kulturellen und sozialen Fortschritt für die ansässige Wohnbevölkerung vorstellt, kann sich in Dortmund-Hörde einmal mehr von Illusionen heilen lassen. Der herrschenden neoliberalen Ideologie folgend bedeutet Sanierung vor allem Aufwertung von Immobilien, Waren- und Dienstleistungsangeboten.

Die Bezeichnung als „Stadtumbau“ deutet schon an, dass hier für die Ansiedlung ganz neuer Nutzergruppen geplant wird. Eingeklemmt zwischen den Hitech-Standort Phoenix-West und das städtebauliche Großspekulations-Projekt Phoenix-See, soll Alt-Hörde in die Anwerbung und Ansiedlung hoch qualifizierter, hoch profitabler Unternehmen und einkommensstarker Käuferschichten eingespannt werden. Dass so ein Umbauverständnis auf längere Sicht zum Austausch ganzer Bevölkerungsschichten des alten Ortskerns führt – und zwar nicht nur von Mietern aus den aufgewerteten Miethäusern, sondern auch vieler Kleinhandels- und Handwerksbetriebe – diese marktwirtschaftliche Gesetzmäßigkeit kann man an Hunderten Beispielen in den Metropolen der Welt studieren. Unter dem macht man’s auch in der Provinzhauptstadt Dortmund nicht mehr.

Wirtschaftsförderung im Sinne von „Standortwettbewerb“ geht vor Verbesserung der Lebensbedingungen der Bewohner und dient einer dreifachen Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums:
- von unten nach oben (höhere Einkommen – zahlungsfähige Nachfrage – steigende Steuerkraft – Mietsteigerung),
- Privat vor Staat (private Aneignung der Sanierungsgewinne – Sozialisierung der Sanierungskosten),
- zwischen Gesellschaftsklassen (von lohnabhängigen Mieterhaushalten zum Handels- und Gewerbekapital).

Die öffentliche Hand beschränkt sich dabei einerseits auf die Gestaltung der öffentlichen Räume und Verbesserungen der Verkehrsinfrastruktur, andererseits auf Investitionsanreize für Hauseigentümer und Gewerbetreibende. Charakteristisch für solche Art Umbau ist, dass im gesamten umfangreichen, 15 Mio € teuren Maßnahmenkatalog das Kapitel „Soziales, Integration, Kultur“ fast ganz hinten herunter fällt und gerade mal 825.000 € abbekommt. Dieselbe Geringschätzung erfährt das Teilgebiet mit den massivsten sozialen Problemen, das Wohnquartier um den Hörder Neumarkt.

In Konsequenz daraus, dass die erhofften neuen Nutzer erst hergelockt werden müssen, reduziert sich die gesetzlich vorgeschriebene Bürgerbeteiligung auf die Klientel der Immobilienbesitzer und Einzelhändler, deren aktive Mitwirkung bei solcher Art Sanierung gebraucht wird. Hingegen ist die Mitsprache der alteingesessenen Bewohner-innen, also der potentiell von dieser Planung Verdrängten, weder erwünscht noch zielführend. Folgerichtig wird hier Bürgerbeteiligung durchgängig mit „Information und Betreuung der Bewohner“ übersetzt.

Das linke Gegenkonzept
- Ein sozialverträglicher Strukturwandel setzt die Schaffung von Arbeit für die ortsansässige Bevölkerung voraus, also nicht vor allem Hitech-Arbeitsplätze (Phoenix West), sondern öffentlich geförderte Beschäftigung zu existenzsichernden (Mindest-) Löhnen und tariflich geregelten Arbeitsbedingungen. Keine Formen der Zwangsarbeit. Frauenförderplan.
- Begrenzung von Mietsteigerungen auf die Mietleistungskraft der ansässigen Bewohnerschaft. Modernisierungszuschüsse nur gegen Sozialbindung und städtische Belegungsrechte, besondere Förderung genossenschaftlicher Wohnprojekte, Vorkaufsrechtssatzung.
- Vorrangiger Ausbau von Bildungseinrichtungen (Kitas, Ganztagsschule), Schulentwicklungsplan, überbetriebliche Ausbildungsstätten, Integrationsprojekte, Erwachsenenbildung.
- Ausbau der Altenbetreuung.
- Förderung kultureller und sozialer Bewohnerinitiativen.
- Basisdemokratische Entscheidungsbefugnisse auch für Mieter, soziale Verwaltungskontrolle.

Finanzierung
Wie jedes linke Gegenkonzept überzeugen auch unsere Vorstellungen zur Stadterneuerung nur auf Grundlage „realistischer“ Finanzierungsvorschläge – realistisch in dem Sinn, dass sie bei entsprechendem politischen Willen sofort und ohne volkswirtschaftliche Schäden umsetzbar sind. Dazu gehören:
- das allgemeine Steuerkonzept der LINKEN in Bund und Land,
- der vertikale Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Kommunen nach dem Konnexitätsprinzip („Wer anordnet zahlt“),
- Steigerung der Stadterneuerungsmittel durch Land, Bund und EU,
- kommunale Infrastrukturabgabe (z.B. über Hebesatz der Grundsteuer B),
- Teilabschöpfung privater Sanierungsgewinne.