Nach repräsentativen Umfragen
befürworten rund zwei von drei Wähler-innen in Deutschland die große Koalition.
Und zwar unbesehen, das heißt ohne dass sie den Koalitionsvertrag auf seine
reale Substanz und Haltbarkeit prüfen konnten. Die in Leserbriefen, im Internet
und unter Bekannten von mir aufgeschnappten Gründe für die große Koalition
sortieren sich – mit einigem Interpretationsspielraum, ohne wissenschaftlichen
Anspruch und unter Ausschluß rein taktischer Spekulationen im Interesse der einen
oder anderen Partei – etwa so:
„Uns geht’s doch gut mit
Mutti, also weiter so! Nur vielleicht mit ein paar sozialen Nachbesserungen.“
„Demokratie funktioniert nur
in stabilen Verhältnissen.“
„Schwierige Zeiten brauchen
eine starke Regierung. Eine handlungsfähige Regierung in einem starken Staat
braucht eine breite Akzeptanz.“
„Wir müssen zusammenhalten
gegen die anderen, die uns unseren Wohlstand neiden.“
„Einigkeit macht stark –
Streit macht schwach.“
„Macht ist sexy – Ohnmacht stößt
ab. Opposition ist Mist.“
„Linke und Grüne sind nicht
regierungsfähig, weil sie übers Ziel hinaus schießen – nicht mit Geld umgehen können
– uns gegenüber dem Ausland schwächen.“
Eine fundamentale
Gemeinsamkeit haben alle derartigen Antworten. Nicht eine-r der
Befürworter-innen berührte die Frage, ob dieser Koalitionsvertrag bestimmten
Teilen der Gesellschaft mehr nützt und anderen vielleicht sogar schadet.
Während unter den Gegnern der Groko immerhin einige feststellten, dass im Energiebereich
die Großkonzerne ihre Interessen
durchgesetzt haben, in der Arbeitsmarktpolitik „die Wirtschaftslobby“, in der
Steuerpolitik „die Reichen“ usw., scheint die breite Masse der Jasager alle
jene zu vereinigen, die die
Grundstruktur unserer Gesellschaft völlig aus dem Blick verloren haben oder
bewußt ausblenden: den zentralen Interessengegensatz zwischen dem großen
Kapital und der Mehrheit, die ihre Arbeitskraft ans Kapital verkaufen muss, um
leben zu können.
Dabei wäre es doch leicht zu
erkennen, dass das schwarz-rot vereinbarte Weiter-so nicht nur auf einzelnen
Feldern wie der Energiepolitik, und sogar dort wo noch Wrackteile
sozialdemokratischer Wahlversprechen aus dem Sand ragen, sondern von A bis Z
die Verwertungsbedingungen des Kapitals in Deutschland sichern und verbessern
soll – alles andere steht nur in Prüfaufträgen oder unter
Finanzierungsvorbehalt. Und weil das Weiter-so uns auch in den nächsten Jahren
kein Wachstumswunder bescheren kann, gilt weiterhin das Gesetz der
kommunizierenden Röhren: Was in der einen dazu kommt, muss aus der anderen abfließen.
Weiter-so bedeutet weiter Umverteilung von unten nach oben.
Bei den Vielen, die den
Kapitalismus für alternativlos halten, kann es uns nicht wundern, wenn sie vor
seinen inneren Widersprüchen Augen und Ohren verschließen, solange es irgendwie
geht. Auch Sozialdemokraten, die seit Bad Godesberg (1959) den Klassenkampf
zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr als alltägliche Realität zur Kenntnis
nehmen, sondern für böswillige kommunistische Verleumdung halten, könnte die
gegenwärtige Krise des Kapitalismus in Europa als neue Bewährungsprobe
erscheinen, „unser Vaterland nicht im Stich“ zu lassen (SPD-Vorsitzender Hugo
Haase 1914 bei der Bewilligung der Kriegskredite für den 1. Weltkrieg).
Daraus ist zu schließen, dass
heute der rechnerisch möglichen „linken Mehrheit“ im Bundestag leider keine
gesellschaftliche Mehrheit entspricht, sondern 2/3 des Wahlvolks einer
„rot-rot-grünen“ Regierung skeptisch bis ablehnend gegenüber stünden.
Aber nicht nur das. Wenn
heute die alltäglichen Auswirkungen der Kapitalmacht auf die Politik nicht mehr
als elementare Funktion der Klassengesellschaft wahrgenommen, sondern geleugnet
und weg-ideologisiert werden können, liegt das auch an der LINKEN. An vielen
Details dieses Koalitionsvertrags hat sie ja bewiesen, dass ihr „zähes Bohren
dicker Bretter“ (Max Weber) auch aus der Opposition heraus das politische Klima
im Land und damit die Beschlusslage in Parlamenten durchaus verändern kann. –
Aber, teils aus dem „demokratisch-sozialistischen“ Selbstverständnis der PDS,
teils aus der „Co-management“-Ideologie der westdeutschen Gewerkschaftsapparate
hat sie es „vermieden“ (so wörtlich in einem Programmkommentar von 1997), noch vom
Klassengegensatz und seiner Unversöhnlichkeit zu sprechen – und hat sich so dem
Zeitgeist der Unterordnung des Lebens unter die Kapitalverwertung angepasst. Akribisch
untersuchen linke Sozialwissenschaftler die Differenzierungen, Segmentierungen und
„Ungleichheiten“ zwischen verschiedenen Milieus der Bevölkerung. Nichts dagegen
– nur wenn darüber der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit aus dem
Blick gerät, verstärkt das die optische Täuschung, als sei das
Gerechtigkeitsproblem im Kapitalismus zu lösen, etwa durch sozialen Ausgleich
innerhalb der Arbeiterklasse, oder gar die wachsende Ungleichheit im Land
aufzulösen in eine „Gleichheit“ zwischen Kapital und Arbeit. Auf diesem Mist
gedeihen große Koalitionen.
Wer wie die LINKE den
Anspruch an sich stellt, zur Durchsetzung neuer Ideen beizutragen, muss die
Dinge bei ihren richtigen, einfachen Namen nennen. Warum das so wichtig ist?
(1) Weil das Weiter-so nie mehr sein kann als der trotzige
bis verzweifelte Versuch, sich noch eine Zeit lang über Wasser zu halten, bevor
einen die Geschichte in die Tiefe reißt. Denn die Welt, die Lebensverhältnisse
verändern sich, ob man will oder nicht. Im Gegensatz zu allen konservativen
Ideologien ist Leben ständige Bewegung, Fortschreiten vom Alten zum Neuen,
Widerspruch des Neuen gegen das Alte, Kampf zwischen ihnen.
(2) Ob die Welt sich für den Einzelnen zum Guten oder zum
Schlechten verändert, können viele Einzelne in gemeinsamer Anstrengung
beeinflussen. Voraussetzung dafür ist eine realistische Kenntnis, wie das Ding
funktioniert, das man verbessern will. Das heißt, welche inneren Widersprüche
seine Entwicklung antreiben.
(3) Für das Zusammenleben großer Menschengemeinschaften
(Gesellschaften) ist dies heute vor allem der tagtägliche Klassenwiderspruch
zwischen den Vielen, die alle Güter erarbeiten, und einer kleinen Minderheit,
die über alles Geschaffene verfügt. Wer mehr will als sich bloß noch eine Zeit
lang über Wasser halten, muss in diesem Klassenwiderspruch Partei ergreifen.
(4) Wie könnte dieser Grundwiderspruch der
kapitalistischen Gesellschaft jemals zum besseren aufgelöst werden, solange
seine eine Seite, die Arbeiterklasse sich selbst nicht einmal als Klasse
erkennt? Sollte die LINKE ihr dabei nicht helfen?