Es gibt aktuell wohl keinen zweiten heißen Krieg auf der Welt, dessen Historie, Ursachen und Hintergründe so breit und umfassend analysiert vor aller Augen liegen wie beim Krieg um Palästina. Den allbekannten Tatsachen können die täglichen Gräuelnachrichten nichts wirklich Neues hinzufügen – was sie nicht weniger entsetzlich macht. Wie politische Repräsentanten zu diesem Krieg Stellung beziehen, ist längst zu einer Frage ihrer eigenen politisch-ethischen Grundhaltung geworden, zur Scheidelinie zwischen Rechts und Links, Oben und Unten, Gestern und Morgen.
Um
das zu verdeutlichen, rufe ich nur zwei Momente dieses Konflikts in Erinnerung,
die wirklich schon rauf und runter ausdebattiert sind und dennoch von den
meisten Menschen immer wieder „vergessen“ werden.
Erstens:
Seit 1948 (sogar noch früher) wird dieser Krieg von beiden Seiten nicht nur im
Namen gegensätzlicher Nationalinteressen, sondern auch zum Schutz der
jeweiligen Religionen geführt. Die Unversöhnlichkeit und verbissene
Opferbereitschaft beider Seiten wurzelt vor allem darin. Wie ist das möglich,
dass im 21. Jahrhundert Nationen im Namen jahrtausendealter Mythen sich
gegenseitig abschlachten? Begreifen kann das nur, wer sich das Wesen und die
gesellschaftliche Funktion der Religion klar macht.
Religion
ist eine Fluchtbewegung der Menschheit, eine geistige Hilfskonstruktion, mit
der sie alle Erscheinungen der Natur, die sie nicht versteht, denen sie geistig
nicht gewachsen ist, für die ihr Erkenntnisvermögen nicht hinreicht, auf eine
übernatürliche, überirdisch-jenseitige Ursache abschiebt, in Gestalt eines
göttlichen Willens, dem sich der religiöse Mensch bedingungslos unterworfen
glaubt und der ihn des eigenen menschlichen Willens (als Konsequenz aus eigener
Welterkenntnis) enthebt, ihn von der Not (-wendigkeit) eigener
Erkenntnisanstrengung und den darin eingeschlossenen Konflikten erlöst.
Da
beim religiösen Menschen der Gehorsam gegenüber einem fremden, ihn allmächtig
beherrschenden Willen an die Stelle eigener ethischer Entscheidung tritt,
eignet Religion sich bestens, um Menschen für Handlungen zu motivieren, auf die
sie sich aus eigenem freiem Willen niemals einlassen würden. Religion eignet
sich dazu sogar besser als die vulgärdarwinistische Ideologie vom „Kampf ums
Überleben“, mit der die bürgerliche Klasse ihre Konkurrenzkämpfe verbrämt, und
die doch immer auch die gefährliche Frage nach Sinn und Richtung des
evolutionären Fortschritts aufwirft – wohingegen Religion solche Fragen mit der
Berufung auf den göttlichen Willen ausschließt.
Während
die modernen westlichen Demokratien, ebenso wie sozialistische Staaten, Religion(en)
zur „unpolitischen“ Privatsache der Individuen erklärten – Trennung von Staat
und Kirche, ein epochaler Fortschritt zu geistiger Freiheit und zu den
Menschenrechten! – kehren sowohl die zionistische Ideologie als auch
fundamentalistische Varianten des Islam wieder zur religiösen Bevormundung der
Menschen und der Politik zurück – und damit zu den Glaubenskriegen des
Mittelalters. Diesen Rückfall ins Mittelalter wird die Menschheit nur
überwinden können auf dem Weg, den Karl Marx in Anlehnung an Bruno Bauer schon
vor 170 Jahren aufzeigte: „In Bauers Sinn
hat jedoch die Judenfrage eine allgemeine, von den spezifisch deutschen
Verhältnissen unabhängige Bedeutung. Sie ist die Frage von dem Verhältnis der
Religion zum Staat, von dem Widerspruch der religiösen Befangenheit und der
politischen Emanzipation. (…) Der Mensch emanzipiert sich politisch von der
Religion, indem er sie aus dem öffentlichen Recht in das Privatrecht verbannt.“
(Karl Marx, Zur Judenfrage, 1843/44)
Zweitens:
Seine materielle Grundlage hat der Anachronismus des „Religionskrieges“ in den
Sozialstrukturen, Herrschafts- und Eigentumsverhältnissen innerhalb der
kriegführenden Gesellschaften. Beide dort aufeinander einschlagende
Glaubensbekenntnisse wenden sich äußerst elitär und aggressiv gegen
Andersgläubige.
Nach
zionistischer Doktrin ist das Volk der Juden von Gott auserwählt, Seiner
Weltordnung eine „Heimstatt“ zu schaffen, und zwar in „Eretz Israel“, dem
heiligen Land, das wieder in Besitz zu nehmen göttliches Gebot sei. Ihm geht es
also erklärtermaßen um die Aneignung eines Landes und seiner Reichtümer aus fremdem
Eigentum. Mit diesem erklärten Ziel dienten sich die Zionisten schon vor dem
ersten Weltkrieg den Nahostinteressen der britischen Kolonialmacht und später
den strategischen lnteressen des US-Imperiums an, beide benutzten und benutzen
noch heute die zionistische Bewegung als Waffe gegen ein Erstarken der
arabischen Länder. Bis heute könnte der zionistische Staat seine permanenten
gewaltsamen Übergriffe auf arabisches Eigentum nicht durchführen ohne die
massive finanzielle und militärische Aufrüstung aus der US-amerikanischen
Hochfinanz. Die israelische Oberklasse profitiert, neben den Subventionen aus
den USA und der Ausbeutung der eigenen israelischen Staatsbürger, von den
Hunderttausenden billigster palästinensischer „Gastarbeiter“, die das vom
israelischen Besatzungsregime erzeugte und aufrecht erhaltene Elend, die
Sperrung sogar der Wasserversorgung usw., über die Grenze in die israelischen
Agrar- und Industriebetriebe treibt.
Auf
der Gegenseite predigt der fundamentalistische Flügel des Islam die Erlösung
der Gläubigen durch den Märtyrertod im heiligen Krieg gegen die Ungläubigen.
Dies menschenverachtende Dogma konnte im Gazastreifen von der Hamas zur
Staatsreligion erhoben werden, weil es aufgrund der elenden Lebensbedingungen
unter der israelischen Besatzungspolitik eine besondere Überzeugungskraft in
den verarmten, oft gewaltsam enteigneten kleinbäuerlichen Massen gewinnt. Man
könnte es für eine besonders perfide zionistische Strategie halten, gerade im
Gazastreifen die Lebensgrundlagen so unerträglich zu zerstören, um in der
zunehmenden Verzweiflung und daraus folgenden Radikalisierung der Bevölkerung immer
neue Vorwände für militärische „Strafexpeditionen“ zu finden, die eine
friedliche Koexistenz beider Völker unmöglich machen. Während in Gaza die Verwaltung sich fast
ausschließlich aus der Funktionärshierarchie von Hamas rekrutiert, bestimmen in
der Westbank immer noch die großen Grundbesitzerclans die Politik und
Verwaltung. Naturgemäß sind sie mehr an Verhandlungslösungen mit den
Großmächten interessiert, Hamas hingegen sucht und findet eher Hilfe bei
ähnlich fundamentalistisch ausgerichteten Golfstaaten.
In
Kenntnis dieser Fakten kann es für linke Politik zu diesem Konflikt nur eine
Haltung geben:
Wenn
heute die deutsche Regierung, im Einklang mit den USA und allen westlichen
Großmächten – und in ihrem Kielwasser leider auch einige Vertreter der Linkspartei
– die zionistische Expansion in Palästina und die Verhinderung eines souveränen
und lebensfähigen palästinensischen Staates als „Verteidigung des
Existenzrechts Israels“ ausgeben, so leistet das nicht nur Beihilfe zu den zionistischen
Kriegsverbrechen, sondern schlägt dem eigenen Verfassungsgrundsatz der modernen
laizistischen Demokratie offen ins Gesicht. Im Gegensatz dazu muss eine
„besondere deutsche Solidarität mit Israel“ sich heute klar auf die Seite der
israelischen Friedensbewegung gegen die israelische Regierung stellen. Diese
klare Unterscheidung zwischen dem militanten Zionismus und den guten Kräften
des jüdischen Volkes wäre auch die notwendige Kampfansage an jeglichen
Antisemitismus.
–
Auf der anderen Seite kann nur ein starker internationaler Einsatz für die
Unantastbarkeit palästinensischen Eigentums und das volle palästinensische
Selbstbestimmungsrecht, bis zur Gründung eines einheitlichen, souveränen und
lebensfähigen Palästinenserstaates die Bedingungen schaffen, um den
radikal-islamistischen Gotteskriegern der Hamas den Boden zu entziehen. Nur
durch energische Unterstützung der Zwei-Staaten-Lösung kann linke Politik heute
zum Frieden in Palästina beitragen.