Sonntag, 28. September 2014

Notizen aus der Provinzhauptstadt: OB und Kämmerer ratlos, "Land unter" für Dortmunds Haushalt


Von den 15 Städten mit über 100.000 Einwohnern zwischen Duisburg und Hamm sind 12 so überschuldet, dass sie der Landesregierung "Haushaltssanierungspläne" vorlegen und genehmigen lassen müssen ("Stärkungspakt NRW"), zwei weitere mussten "Haushaltssicherungskonzepte" aufstellen. Nur eine einzige Großstadt des Reviers konnte über ihre Haushaltsmittel bisher noch - im Rahmen der Gesetze - selbst verfügen: Dortmund. Zum Jahreswechsel 2014/15 wird das voraussichtlich auch hier vorbei sein.

Nach der jüngsten Prognose der Kämmerei soll der Dortmunder Stadthaushalt bis Ende 2014 mit einem Fehlbetrag knapp unterhalb 5 % des städtischen Eigenkapitals abschließen. Doch wenn die Konjunktur sich weiter eintrübt - was allgemein erwartet wird - und folglich die Gewerbesteuer absackt, können auch noch schärfere Leistungskürzungen der Verwaltung das Loch nicht mehr stopfen, dann wird die 5%-Latte gerissen. Und ab 2015 droht das Defizit sich noch um einige -zig Millionen € weiter zu erhöhen. Dann rutscht auch die letzte Reviergroßstadt unter die Haushaltssicherungsfuchtel der Bezirksregierung. Dann hat die Wirtschafts- und Finanzkrise, parallel zum Demokratieabbau in ganz Europa, im gesamten Ruhrgebiet die verfassungsmäßige Selbstverwaltung der Kommunen weitgehend außer Kraft gesetzt.

Sechs Momente sind es, welche die Löcher in der Stadtkasse weiter aufreißen. Und bis auf eins sind sie allesamt Folgen schädlicher Regierungspolitik in Land, Bund und EU:

- Die Zahl der Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften (Grundsicherung bei Arbeitslosigkeit, Altersarmut und Erwerbsminderung) ist auf derzeit 44.000 geklettert und steigt weiter – damit auch die Kosten der Unterkunft, die zu drei Vierteln die Kommunen aufbringen müssen.

- Vor allem die Zuwanderung aus Rumänien wirkt sich hier aus – Folge der planlosen, überstürzten EU-Erweiterung.

- Dortmund soll monatlich 100 Flüchtlinge aus Syrien zugewiesen bekommen. Dies ist eine Folge des Bürgerkriegs dort, in dem der Westen Islamisten gegen Assad massiv gefördert und aufgerüstet hat (inzwischen wurde ihre Radikalisierung auch dem Westen zu gefährlich, aber jetzt liegt das Kind im Brunnen).

- Infolge steigender Soziallasten erhöht sich auch der Beitrag der Stadt zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL-Umlage).

- Die Schlüsselzuweisungen des Landes für Dortmund sinken. Dies ist eine Folge sowohl der sinkenden Einwohnerzahl (Abwanderung vor allem wegen hoher Arbeitslosigkeit, des unterdurchschnittlichen Einkommensniveaus und der Förderung prekärer Arbeitsverhältnisse) als auch Folge des gewollten staatlichen Aushungerns der Kommunen.

- Die gerichtlich erzwungene Erhöhung der Beamtenbezüge ist die einzige Mehrbelastung der Stadt, die nicht auf falscher Politik beruht, sondern auf einer Korrektur falscher Politik.

Dies alles vor dem Hintergrund, dass ohnehin die Städte viele eigentlich staatliche Aufgaben erfüllen, für die sie aber bei weitem nicht die vollen Kosten erstattet bekommen. So wendet Dortmund 2014 für Personenstands- und Zulassungsämter, Kosten der Unterkunft, das Bildungswesen, Gesundheitsvorsorge, Krankenhäuser, Klima- und Umweltschutz, bestimmte Aufgaben der Wirtschaftsförderung ca. 660 Mio € mehr auf, als Land und Bund erstatten. Diese Finanzierungslücke entspricht etwa einem Drittel aller laufenden Aufwendungen im Jahreshaushalt der Stadt. Hier liegt die Hauptursache für die Überschuldung der Städte. Ein politischer Skandal, der dem normalen Bürger kaum bewußt ist.

Freitag, 26. September 2014

TTIP: Wirtschaftsminister Gabriels doppeltes Spiel

aus: www.kommunisten.de ,26.09.2014

Vehement verteidigte der SPD- Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in der gestrigen Bundestags-Debatte die Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Den KritikerInnen entgegnete er, erstens habe er längst die Bedenken gegen die Schiedsgerichte bei der EU-Kommission vorgetragen. Und zweitens: "Nichts ist unterschrieben. Nicht einmal das kanadische Abkommen. Wir werden die Verhandlungen mit maximaler Transparenz führen". Massiv griff er die Linksfraktion an, der er „Nationalismus und Provinzialismus“ und Nähe zur AfD vorwarf sowie Angehörige "einer wirklichen Jobkillerpartei" zu sein.
Gabriel reagierte mit diesen Angriffen auf einen Antrag der Linksfraktion, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, das Ergebnis der Verhandlungen um das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und Kanada (CETA) zurückzuweisen und sich eindeutig gegen Investitionsschutzabkommen auszusprechen. Gabriel: „Sie fordern uns mit Ihrem Antrag dazu auf, etwas zurückzuweisen – das haben wir schon getan. Dieser Antrag ist erledigt – durch Handeln der Bundesregierung.

Die grüne Abgeordnete Franziska Brantner – bis vor der letzten Wahl noch als Abgeordnete im EU-Parlament – warf Gabriel ein doppeltes Spiel vor, in dem die Bundesregierung in Brüssel für Schiedsgerichte sei und die Verhandlungen einfach weiter laufen ließ, in Berlin aber den Kämpfer gegen Investitionsschutzabkommen spiele. Dies berichtete auch die »Tagesschau«. Aus einem internen Papier des Wirtschaftsministeriums geht hervor, dass sich bei einer Sitzung des Handelspolitischen Ausschusses in Brüssel der Vertreter Deutschlands bei der Kommission für das "positive" Ergebnis der Verhandlungen mit Kanada bedankt hat.

Gabriel: „CETA ist ein gutes Abkommen"

Gabriel warnte vor einem Abbruch der Gespräche: „CETA ist ein gutes Abkommen. Es wäre falsch, es jetzt grundsätzlich in Frage zu stellen.“ Über den kritischen Punkt des Investorenschutzes müsse mit der EU und Kanada weiter verhandelt werden; dieser Punkt sei aber „zu unwichtig“, um CETA deswegen „in den Orkus zu werfen“. Die Bundesregierung werde versuchen, in der EU Mehrheiten für ihre Position zu finden, um noch Korrekturen durchzusetzen.

Allerdings musste er selbst einräumen, dass auch die Bundesregierung der EU-Kommission das Verhandlungsmandat für den Investorenschutz bei CETA übertragen hat. Unbeantwortet ließ er die Frage, inwieweit die Bundesregierung auf den bereits ausgehandelten CETA-Vertrag und auf die Verhandlungen zu TTIP noch Einfluss nehmen kann. Denn die noch amtierende EU-Kommission will von Nachverhandlungen absolut nichts wissen. „Wenn wir die Verhandlungen neu eröffnen, ist das Abkommen tot“, sagte Handelskommissar Karel De Gucht der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«.

Außerdem ist zwischen Brüssel und Berlin immer noch umstritten, ob der rund 1.500 Seiten starke Vertrag noch die Zustimmung des Bundestags und der übrigen 27 nationalen Parlamente braucht oder ob nicht. Auf ihrer Internetseite bringt die EU-Kommission ihre Auffassung zum Ausdruck: “Zu einem späteren Zeitpunkt bedarf dieses Abkommen der Zustimmung des Europäischen Rats und des Europäischen Parlaments.“

Investitionsschutzklausel: "Deutschland kann damit leben"

Während der SPD-Vorsitzende im Bundestag den Kämpfer gegen die Investitionsschutzklausel gab, hatte seine Staatsekretärin im Wirtschaftsministerium, Brigitte Zypries, am Montag auf einer Pressekonferenz erklärt, die Bundesregierung werde sich bei CETA nicht mehr querlegen, wenn es um den Investorenschutz gehe. "Das ist etwas, mit dem Deutschland leben kann", sagte sie. Sie verwies auf eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie, der zufolge die Investitionsschutzvorschriften im CETA-Abkommen unbedenklich sind. Der Studie zufolge räumen sie den Konzernen nicht mehr Rechte ein, als sie nach deutschem Gesetz ohnehin schon haben.

Als Autor dieser Studie wird ein Dr. Stephan Schill vom Max-Planck-Institut für ausländisches und öffentliches Recht in Heidelberg genannt. Nicht erwähnt wird, dass genau dieser Stephan Schill im Dezember 2013 von der Bundesrepublik Deutschland auf die Schlichterliste der Internationalen Schiedsstelle für Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes) gesetzt wurde.

Diese Schlichter kommen zum Einsatz bei Klagen von Konzernen gegen Staaten, wenn diese ihre Gewinne durch staatliches Handeln bedroht sehen. Jeweils drei Juristen bilden das Schiedsgericht, das im Geheimen tagt und dessen Urteile endgültig und nicht anfechtbar. Dieses Verfahren ist in zahlreichen Freihandelsabkommen mit Entwicklungsländern und der »Energiecharta« vereinbart.  Beispielsweise klagt etwa der Zigarettenhersteller Philip Morris gegen die Anti-Raucher-Gesetzgebung Uruguays. Der Öl- und Gaskonzern Lone Pine Resources verlangte eine Entschädigung von 250 Millionen US-Dollar von Kanada, weil die Provinz Quebec ein Fracking-Moratorium verhängte und einzelne Bohrlizenzen widerrief. Die Bundesrepublik wird vom Energieriesen Vattenfall auf fast 4 Mrd. Euro Entschädigung verklagt, weil dem Konzern durch den Atomausstieg Gewinne entgehen. Für die Schlichter sind diese Verfahren ein einträgliches Geschäft.

CETA – ein wirklich »umfassendes« Abkommen

Argumente gegen CETA, das als Blaupause und Türöffner für TTIP gilt, lieferte kurz vor der Bundestagsdebatte das Canadian Center for Policy Alternatives (CCPA) mit einer Analyse des endgültigen Vertragstextes. Die Experten warnen vor den Folgen von Ceta. Insbesondere kritisieren sie die geplante Investitionsschutzklausel, die Unternehmen ermöglichen soll, bei Wettbewerbsnachteilen gegen Regierungen zu klagen. Weitere Kritikpunkte sind aufgeweichte Patentregeln, die Pharmafirmen erlauben, ihre Medikamente später als bisher für Generika-Hersteller freizugeben. "Ceta ist ein durchschlagendes Grundsatzpapier, das viele Punkte betrifft, die nur vage mit Handel zu tun haben", schreiben die Autoren. Betroffen seien etwa Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums, zur Reisefreiheit von ArbeitnehmerInnen und regionale Ernährungspolitik. Auch eine Privatisierung der Wasserversorgung soll trotz Nachbesserungen im Vertrag weiterhin möglich sein.

Die Schutzklausel räumt Konzernen weitreichende Klageprivilegien ein, um vor privaten Schiedsgerichten auf Schadensersatz zu klagen. Brisant an CETA ist unter anderem, dass es ein eigenes Kapitel “Besteuerung” ("Taxation”, Seite 466) gibt. In diesem Kapitel wird geregelt, unter welchen Umständen der Vertragsstaat steuerliche Maßnahmen ergreifen darf. Und um diese Bestimmung völlig wasserdicht zu machen, gibt CETA jedem ausländischen Investor auch in diesem Punkt ein Klagerecht gegen den Gaststaat. Er kann geltend machen, dass eine bestimmte steuerliche Maßnahme ihn besonders hart trifft und damit gegen die Investitionsschutzbestimmungen in CETA verstößt.

Da in dem Vertrag selbst Staatsanleihen als Investitionen klassifiziert werden und so den vollen Schutz vor »Enteignung und Diskriminierung« genießen würden, könnten die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten bei Bankabwicklungen oder Schuldenschnitten haftbar gemacht werden. Bereits jetzt werden krisengeschüttelte Euro-Ländern von ausländischen Investoren attackiert. Allein gegen Zypern und Spanien wurden vor internationalen Schiedsgerichten Entschädigungsklagen über mehr als 1,7 Milliarden Euro wegen entgangener Gewinne durch Bankabwicklungen und Schuldenschnitt eingereicht. In vielen Fällen handelt von Investmentfonds, die erst während der Krise in die jeweiligen Märkte eingestiegen sind, die Papiere zu einem Spottpreis erworben haben und jetzt entschädigt werden wollen.

Nur „verhältnismäßige“ Verbesserungen zulässig

In der schriftlichen Stellungnahme auf eine Anfrage der Linksfraktion, wie verhindert wird, „dass künftige Verbesserungen im Bereich des Arbeitsschutzes, des Kündigungsschutzes, des Mutterschutzes sowie des Schutzes bei Krankheit und auch die Verbesserung der sozialen und allgemeinen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte durch die potentielle Forderung nach Investitionsschutz und einer Klage vor einem Schiedsgericht verhindert bzw. unterlassen werden?“, antwortet die Bundesregierung: „Die Bundesregierung sieht allgemein keine Notwendigkeit für die Einbeziehung von Regelungen zum Investitionsschutz und Investor-Staat-Schiedsverfahren. Die aufgeführten potentiellen Verbesserungen in den genannten Bereichen stellten im Übrigen, … sofern sie verhältnismäßig sind, keine Verletzungen von Investitionsschutzkriterien dar.“ (Drucksache 18/432)

SPD-Konvent eine Show-Veranstaltung von Sigmar Gabriel

Vor der Bundestagsdebatte hatte der Fraktionsvize der Linkspartei, Klaus Ernst, vermutet, „dass die SPD-Fraktion gegen die Beschlüsse ihres eigenen Parteikonvents stimmt und der Konvent selbst nur eine Show-Veranstaltung von Sigmar Gabriel war.“ Er sollte recht behalten.

Anträge der Linksfraktion und der Grünen gegen CETA und TTIP, die jene »roten Linien« aufgriffen, die von der SPD zuvor auf einem kleinen Parteitag bei TTIP aufgestellt worden waren, lehnte der Bundestag mit großer schwarz-roter Koalitionsmehrheit ab.

Die Grünen hatten beantragt:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
  1. sich unverzüglich im Rat der Europäischen Union dafür einzusetzen, dass in TTIP kein Mechanismus zu außergerichtlichen Schiedsverfahren zwischen Investoren und Staaten aufgenommen wird, beziehungsweise ein Abkommen, das einen solchen Streitbeilegungsmechanismus vorsieht, abzulehnen;
  2. sich unverzüglich im Rat der Europäischen Union dafür einzusetzen, dass in CETA kein Mechanismus zu außergerichtlichen Schiedsverfahren zwischen Investoren und Staaten aufgenommen wird, beziehungsweise ein Abkommen, das einen solchen Streitbeilegungsmechanismus vorsieht, abzulehnen“
In der namentlichen Abstimmung stimmten aus den Reihen der Koalitionsfraktionen lediglich die SPD-Abgeordneten Marco Bülow und Claudia Tausend mit der Opposition, die Unionspolitiker Peter Gauweiler und Josef Göppel enthielten sich.


DIE LINKE griff in ihrem Antrag die jüngsten Beschlüsse der SPD auf und beantragte:

Der Bundestag wolle beschließen:
I.
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
  • Die Verhandlungsdelegationen von EU - Handelskommissar Karel de Gucht und dem kanadischen Handelsminister Ed Fast haben ihre weitgehend im Geheimen verfolgten Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada (CETA) abgeschlossen.
  • Das Verhandlungsergebnis widerspricht den vom Deutschen Gewerkschaftsbund formulierten und vom SPD-Parteikonvent am 20. September 2014 bekräftigten Mindestbedingungen für die mit den USA (TTIP) und mit Kanada (CETA) geplanten Freihandelsabkommen.
II.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
  • das CETA-Verhandlungsergebnis zurückzuweisen und darauf hinzuwirken,
  • dass die Verhandlungsmandate der EU-Kommission für TTIP und CETA im Sinne der Mindestbedingungen geändert werden.“

Die SPD-Fraktion stimmt geschlossen gegen ihre eigenen, vom SPD-Parteikonvent am 20. September 2014 bekräftigten Mindestbedingungen; lediglich Bülow enthielt sich. (Abstimmung)

Die Linkspartei betonte, mit dem Nein-Votum fast aller SPD-Abgeordneten sei der SPD-Konvent  als »Luftnummer« enttarnt worden.

Gauck: „gut für Europa“ - gut für die Welt

Während in der Bevölkerung die Ablehnung gegen CETA und TTIP wächst, ist zumindest Bundespräsident Gauck von den Freihandelsverträgen überzeugt. Während seine Besuchs in Ottawa äußerte er: „Ich bin persönlich überzeugt davon, dass CETA gut für Europa und gut für Kanada ist. Ich habe mir das Thema ausführlich angesehen, auch das Kapitel über den Investorenschutz. Deutschland kann den Vertrag mittragen.“

Er liegt damit auf einer Linie mit der Bundesregierung, die in ihrer Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion schreibt: „Ein transatlantisches Handelsabkommen eröffnet die Chance, dass mit Europa und den USA die zwei größten Handelsräume weltweit Maßstäbe setzen. Die normsetzende Kraft des Abkommens kann zum Hebel einer politischen Gestaltung der wirtschaftlichen Globalisierung werden.“ Und die Welt gestalten, das wollte der Bundespräsident schon immer.
Quelle: http://www.kommunisten.eu/index.php?option=com_content&view=article&id=5194:wirtschaftsminister-gabriel-doppeltes-spiel&catid=42:inland&Itemid=90&utm_medium=twitter&utm_source=twitterfeed

Samstag, 20. September 2014

Notizen aus der Provinzhauptstadt: In der Schuldenfalle - Erste Überlegungen zum städtischen Haushalt 2015


Dortmunds wirtschaftliche Lage

Die Wachstumsmaschine Stadt funktioniert nicht mehr. Die "Metropole Ruhr" - soweit sie jemals mehr war als ein Werbegag - sie schrumpft. Auch Dortmund, dessen Macher und Nutznießer sich immer noch auf Wachstumskurs wähnen. In Wirklichkeit kommt die "unternehmerische Stadt" zum Stillstand. Dortmunds Einwohnerzahl sank in den letzten sieben Jahren um 16.000 (Ende 2005: 588.000 - Ende 2012: 572.087 EW). Die Wertschöpfung und die Einzelhandelskaufkraft wachsen nur noch für eine Minderheit der Unternehmen. (Diese hält zwar die statistischen Durchschnittswerte noch knapp im Plus, aber die Mehrheit stagniert.) Auch die verfügbaren Einkommen legen nur noch im oberen Viertel zu.

Ursachen: Spärlichen Zuzügen von "High performers" (Phoenixsee, Stadtkrone Ost, Hohenbuschei) steht massenhafte Armutszuwanderung gegenüber, Fachkräfte wandern in tatsächliche Metropolen mit besseren Zukunftsaussichten ab. Hier dagegen basieren scheinbare Beschäftigungszuwächse fast ausschließlich auf der Zerlegung sozialversicherter Vollzeitstellen in Teilzeit-, Mini- und andere prekäre Jobs.

Die Folgen für den städtischen Haushalt

Die sündteuren "Leuchttürme" der Standortkonkurrenz versagen als Wachstumsmotoren, aber ihre Folgekosten belasten uns weiter zunehmend.
Niedriglöhne, Rentenreform, Flüchtlingsströme treiben die Zahl der Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften und die Sozialausgaben hoch und dämpfen zugleich die Wirtschaftskraft.
Die Schrumpfprozesse drücken auf den kommunalen Finanzausgleich, die Schlüsselzuweisungen des Landes sinken.
Um den Wachstumsschwindel noch ein Weilchen künstlich zu beatmen, verbrennt die "Standortentwicklung" über Wirtschaftsförderung, Sondervermögen, öffentlich-private Partnerschaften usw. jährlich viele Millionen Euro.
Der städtische Haushalt treibt auf ein Desaster zu.

Für einen Haushalt des Realismus, nicht der Illusionen

In dieser Lage unserer Stadt kann es nicht Aufgabe der LINKEN & Piraten sein, trotzige Wachstumsparolen und kannibalische Städtekonkurrenz zu unterstützen. Realistische Haushaltspolitik hat heute Abschied zu nehmen von den angeblich alternativlosen Sachzwängen der Standortlogik, hat aus Schrumpfung und Verarmung andere Konsequenzen zu ziehen, als die verarmende Nordstadt mit einem Fußballmuseum zu beglücken. Eine Haushaltspolitik, die Schrumpfung als Realität anerkennt und die sozialen Chancen entsprechend neu verteilt, hat ihre Leitlinien und Schwerpunkte neu zu buchstabieren. Es gilt

- Stadtentwicklung nicht mehr auf "Leuchttürme" und "High potentials" einzuengen: Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften ist zu verringern durch Umlenken der Wirtschaftsfördermittel auf soziale und kulturelle Eigeninitiativen der Bevölkerung. Der sozialgewerbliche Beschäftigungssektor und Projekte der solidarischen Ökonomie sind energisch und massiv auszubauen ("Neue Arbeit-Ökonomie vor Ort"; siehe auch unsere Untersuchung "Arbeit für Alle").

- der sozialen Spaltung der Stadt entgegen zu wirken: Städtische Ressourcen sind auf die Aktionsräume der "Sozialen Stadt" zu konzentrieren.

- die soziale Infrastruktur auszubauen: Städtische Tochterunternehmen dürfen nicht länger zur Sanierung des Kernhaushalts mißbraucht werden. Das gilt besonders für den Wohnungsbau, den ÖPNV, die Energie- und Wasserversorgung, Sport- und Kulturstätten.

- Schluß zu machen mit der privaten Abzocke städtischer Gelder: Verbot und möglichst Rückabwicklung von ppp-Projekten, vollständige Auflösung der RWE-Beteiligung an DEW21, sofortige Rückführung des Flughafens auf den Geschäfts- und Frachtverkehr.

- Kreativität nicht zuerst als Wirtschaftsfaktor ("Kreativwirtschaft"), sondern als selbstbestimmte Lebensäußerung der Stadtmenschen zu begreifen: Basisinitiativen mit leerstehenden Flächen und Räumen versorgen, Genossenschaftsgründungen erleichtern und besonders fördern.

- die "Schuldenbremse" vom Kopf auf die Füße zu stellen: Heraus aus der Schuldenfalle durch die staatliche Unterfinanzierung der Kommunen, heraus aus der Ausplünderung durch Banken. Sämtliche kommunalen Leistungen, die ihrem Wesen nach Staatsaufgaben erfüllen, werden in vollem Umfang dem Land in Rechnung gestellt (Personenstands- und Zulassungsämter, alle Kosten der Unterkunft für Grundsicherungsbedürftige, das gesamte Bildungswesen, Gesundheitsvorsorge, Krankenhäuser und Heilstätten, Klima- und Umweltschutz, bestimmte Aufgaben der Wirtschaftsförderung wie Messen, Vernetzung von Forschung und Lehre mit der Produktion, Instandsetzung brachfallender Immobilien überregionaler Unternehmen uvm.)
Liquiditätskredite werden in einen gemeinsamen ruhrgebietsweiten Schuldenfonds ausgelagert, der zentral Zins- und Tilgungserlasse aushandelt.

Konsequenzen für unser Verhalten zum Haushalt 2015: Die Reichen sollen zahlen

Mit dem staatlichen Ausbluten der Gemeindekassen ist von vorn herein dafür gesorgt, dass jede soziale Forderung einen Verteilungskonflikt mit den mächtigen Nutznießern des städtischen Haushalts heraufbeschwört: den Wirtschaftsverbänden, den Kammern, einigen einflussreichen Managern wichtiger Unternehmen (z.B. RWE), Banken und Versicherungen, den mit Wirtschaft und Politik eng verzahnten Hochschulen, auch mit dem lokalen Zeitungsmonopolisten Lensing. Denen geht verloren, was der breiten Masse zusätzlich zugute kommen soll.

Absehbar ist auch: Ohne die laufenden Defizite des Konzerthauses, des Flughafens, des U-Turms, des Fußballmuseums (zusammen ca. 40 Millionen € jährlich), ohne die Zinsverpflichtungen an Banken und „ppp“-Investoren (ca. 60 Millionen € jährlich) und ohne die Gewinnabflüsse aus der Energie- und Wasserversorgung an den Privatkonzern RWE (ca. 20 Millionen € jährlich) wäre der Stadthaushalt auch 2015 im plus und wären manche unserer sozialen Forderungen zusätzlich zu finanzieren.

Es versteht sich von selbst, dass solche Anschläge auf die Goldesel der Oberen Zehntausend eine gehässige, demagogische Hetze gegen die LINKE & Piraten hervorrufen. Dennoch, sollte die Stadtspitze jemals auf unsere Stimmen für ihren Haushalt angewiesen sein, müsste sie sich nicht nur auf unsere Forderungen, sondern auch auf unsere Finanzierungsvorschläge einlassen. Solange sie dazu nicht bereit ist, haben wir keinen Grund, ihrem Haushalt zuzustimmen.

Dienstag, 9. September 2014

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Wirtschaftspolitik drückt Renten in den Keller


Dortmunds subventionierter „Strukturwandel“ ist bei den Rentnern angekommen: Das Niveau der Neurenten sinkt dramatisch. Ein Dortmunder, der 2013 in Rente ging, erhält durchschnittlich 120 € weniger Rente als sein Kollege 20 Jahre vorher.

Der DGB NRW, der die Zahlen erhob, sieht die Ursachen nicht nur in der gesetzlich abgesenkten Rentenformel, nach der die Rentenhöhe schon jetzt nur noch 45 % des früheren Arbeitslohns beträgt (nach Abzug von Kranken- und Pflegeversicherung). Sondern auffällig seien die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Städten und Gemeinden: „Dort, wo es eine starke industrielle Basis mit guten Tarifverträgen und anständigen Löhnen gibt, sind die Renten höher als in Städten, die vor allem durch Dienstleistungen und Verwaltung geprägt sind.Der Strukturwandel hat dazu geführt, dass mehr als ein Viertel der Dortmunder Erwerbstätigen nicht in der Lage ist, eine eigenständige Alterssicherung aufzubauen. Dies betrifft vor allem die dauerhaft geringfügig Beschäftigten, die keine Beiträge in die Rentenversicherung einzahlen. Der Anteil dieser Menschen steigt besonders in bestimmten Dienstleistungsbranchen (Logistik, Gesundheitswesen, Gastronomie, Callcenters u.a.). Gerade diese hat die Dortmunder Wirtschaftspolitik seit Jahren hochgejubelt und mit –zig Millionen städtischer Mittel gefördert.

Die Folge – vielen Neurentnern droht Altersarmut. Mit 946,50 € liegt die durchschnittliche Neurente in Dortmund noch unterhalb des Pfändungsfreibetrags, der amtlichen Armutsgrenze. Nur in vier Städten von ganz NRW sind die Neurenten noch krasser gesunken (Gelsenkirchen, Bottrop, Recklinghausen und Herne). Im Landesdurchschnitt bekommen männliche Neurentner 61 € mehr im Monat als in Dortmund.

Der DGB NRW zieht die Bilanz: „Die Menschen müssen immer länger arbeiten und haben dennoch immer niedrigere Rentenansprüche. Wenn es nicht gelingt, den Sinkflug der Neurenten zu stoppen, wird in Zukunft eine durchschnittliche Rente nicht mehr zum Leben reichen.“