Donnerstag, 30. Juli 2015

Schäubles Rache


Der deutsche Finanzminister ist mit seiner Absicht, Griechenland aus der Eurozone zu drängen, vorerst gescheitert. Das will und kann er nicht auf sich sitzen lassen. Denn das Bauernopfer an der europäischen Peripherie sollte ihm, Schäuble, als strategischer Schachzug beim Umbau der Europäischen Union zum Imperium Deutsch-Europa dienen, sollte zunehmende Widersprüche gegen die deutsche Hegemonie im Keim ersticken.

An der Spitze der Leute, die in den entscheidenden Verhandlungen mit der griechischen Regierung den Grexit abgewendet und damit ihm, Schäuble einen Strich durch die Rechnung gemacht haben, stand der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker. Der bekommt jetzt Schäubles Rache zu spüren.

Juncker habe in den Verhandlungen seine Kompetenzen überschritten, verlautet aus Deutschland. Denn die Kommission habe eigentlich nur die Aufgabe der Rechtsaufsicht über die Einhaltung der EU-Verträge und Wettbewerbsregeln und könne sich nicht »gleichzeitig immer mehr als Europa-Regierung in Szene setzen.« Schäuble habe »mehrfach klargestellt, dass in dieser Frage (der Kreditbedingungen für Griechenland) nicht die Kommission verhandlungsbefugt ist, sondern die Eurogruppe als Vertreterin der europäischen Kreditgeber«. Folglich, so Schäubles Logik, müsse der EU-Kommission ihre Kernaufgabe entzogen und an eine "unabhängige", rein technokratische Institution nach dem Vorbild des deutschen Bundeskartellamts übertragen werden.

Dass diese Logik hinten und vorne nicht stimmt, weil damit die politischen Widersprüche zwischen der Union als ganzer und der Eurogruppe als Schäubles deutsch beherrschtem Kern-Europa überhaupt nicht berührt, geschweige denn gelöst würden, darauf kommt es dem Machtmenschen nicht an, wenn nur seine Gegner geschwächt werden.

Schäubles Vorstoß zur technokratischen Entmachtung der EU-Spitze zeigt: Im Gegensatz zur linksliberalen Europa-Romantik will die deutsche Regierung nicht "mehr Europa", im Sinne von mehr politischer Integration, Überwindung des "Wettbewerbs" nationaler Egoismen, nicht mehr Demokratie, sondern von all' dem das Gegenteil: mehr Macht für deutsche Vorherrschaft.

Sein übereifriger Hilfssheriff, der niederländische Amtskollege Dijsselbloem hat sofort angekündigt, den turnusmäßigen holländischen Vorsitz im Rat 2016 zu nutzen, um Schäubles Idee zu verwirklichen. Das wäre dann der nächste Sargnagel der EU.

Montag, 27. Juli 2015

Deutsche Dumpinglöhne drücken französische Bauern an die Wand


Frankreichs Bauern blockieren sieben Grenzübergänge nach Deutschland. Sie protestieren gegen den zu niedrigen Milchpreis und deutsches Preisdumping. „Wir halten alle Lastwagen aus Deutschland auf, die Agrarprodukte nach Frankreich transportieren, alle anderen lassen wir durch, französische Laster in die Gegenrichtung auch“, sagte einer der Blockierer im Fernsehen. Seit über einer Woche legen sie fast das gesamte französische Autobahnnetz still.

Die Bauern klagen, der Michpreis sei in einem Jahr um 17 Prozent auf rund 30 Cent pro Liter gesunken. Landwirtschaftsminister Stéphane Le Foll vereinbarte mit dem Handel und der Agrarindustrie eine Preiserhöhung von vier Cent pro Liter, vor allem aber, keine Frischmilch mehr aus dem Ausland einzuführen.

Die französische Landwirtschaft hat ihre frühere Vormachtstellung in Europa verloren. Deutschland erzeugt heute mehr Käse als Frankreich, das zu Zeiten General de Gaulles noch mehr als 300 Käsesorten herstellte. Zum deutschen Preisdumping stellte der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron fest: „Was billige Produkte angeht, sind die deutschen Hersteller in den vergangenen Jahren Marktführer geworden.“

Den Hintergrund bildet der massenhafte Einsatz osteuropäischer Arbeitskräfte zu Dumpinglöhnen in der deutschen Agrarwirtschaft. Dazu Sahra Wagenknecht (Die LINKE): "Das deutsche Lohndumping zerstört Europa. Französische Bauern protestieren zu Recht gegen die gnadenlose Ausbeutung von Beschäftigten in der deutschen Landwirtschaft und der deutschen Fleischindustrie. Arbeitsministerin Nahles muss dieser Ausbeutung endlich ein Ende setzen, den Missbrauch von Werkverträgen beenden und gleiche Löhne für gleiche Arbeit ab dem ersten Einsatztag durchsetzen.“

Freitag, 24. Juli 2015

"Flüchtlingskrise"? Nein, Krise des Kapitalismus.


Fluchtursachen bekämpfen? Ja, Kapitalismus überwinden.

Soeben sind wieder 40 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Soeben hat der Ministerpräsident von
Bayern, CSU-Chef Seehofer als "Abschiebelager" bezeichnete Konzentrationslager für Flüchtlinge angeregt. Soeben hat die deutsche Bundeskanzlerin Merkel die Zukunftsangst eines von Abschiebung bedrohten palästinensischen Mädchens im Fernsehen dazu missbraucht, die fremdenfeindliche Abschottung Deutsch-Europas zu verteidigen.

Die weltweiten Fluchtbewegungen haben eine in der Menschheitsgeschichte nie gekannte Dimension erreicht, die selbst die Flüchtlingsströme nach dem zweiten Weltkrieg übertrifft: Die UNO-Organisation UNHCR registrierte Ende 2014 weltweit fast 60 Millionen Menschen (16 Prozent mehr als im Jahr davor) auf der Flucht vor Bürgerkriegen, Terror, Zerstörung ihrer Existenzgrundlagen.

Doch wo fast die Hälfte aller weltweit produzierten Werte in die Safes von weniger als einem Prozent der Menschheit wandert, gibt es nicht eine weltweite "Flüchtlingskrise", sondern eine Krise des Wirtschaftssystems, das die Fluchtbewegungen erzeugt. Wenn man diese Krise überwinden will, darf man nicht nur um die Folgen streiten, sondern muss ihre Ursachen ergründen.

Die Ursachen der weltweiten Fluchtwanderungen reichen weit zurück in die Geschichte der Kolonialisierung der ganzen Welt durch eine Handvoll kapitalistischer Staaten. Geschichte kann man nicht rückwirkend korrigieren. Deshalb sollte man bereit sein, sich wenigstens die Last der Folgen zu teilen.

Aber das allein genügt nicht. Soll die Menschheit nicht in Elend und Chaos versinken, dann muss sie sich der Tatsache stellen, dass die fluchtursächliche Ausplünderung der ganzen Welt durch den "Raubtierkapitalismus" (Helmut Schmidt) multinationaler Konzerne, Banken und Hedgefonds die Ausbeutungsmechanismen der Kolonialgeschichte heute noch bei weitem übersteigt.

Dazu zählen:
- der erzwungene Übergang von autarken Wirtschaftsformen hin zu weltmarktabhängigen Monokulturen;
- das Erwürgen der einheimischen Agrarproduktion durch europäische und US-amerikanische Billigimporte;
- die Nötigung zu verstärktem Import von Lebensmitteln aus den USA und Europa;
- das Dumping von Rohstoffpreisen durch erzwungene Überproduktion;
- Währungsabwertungen zur Exportförderung und zur Verteuerung von Importen;
- die Kreditregime der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Nötigung zur Exportproduktion für die Schuldentilgung;
- Importbeschränkungen für Bedarfsartikel des alltäglichen Gebrauchs, aber nicht für Luxuswaren und Rüstungsgüter;
- Steuergesetze zur Begünstigung internationaler Konzerne;
- Ruinierung der einheimischen Küstenfischerei durch die schwimmenden Fischfabriken aus Übersee;
- Zölle, mit denen Europa afrikanische Erzeugnisse von seinen Märkten ausschließt;
- die Aufstellung und Ausrüstung von Bürgerkriegsarmeen, mit Kindersoldaten usw.
usw. usw.

Vieles davon gehört zum Arsenal der Weltbank und des IWF (dargestellt z.B. in: Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung. Stiglitz muss es wissen: Er war 1993–1997 Wirtschaftsberater der US-Regierung, dann Chefökonom der Weltbank und wurde dort nach vier Jahren wegen seiner Reformvorschläge hinausgeworfen.)

Mitschuldig an den Krisenursachen und damit an den Flüchtlingsströmen sind die Handels-, Agrar- und Kreditpolitik der Europäischen Union, ihrer dominierenden Wirtschaftsmacht Deutschland und auch hier vor allem ihrer weltweit agierenden Großbanken. Abgesichert und unterstützt von einer Kanzlerin, die scheinheilig Flüchtlingskinder streichelt und im selben Atemzug die Abschottung Deutschlands gegen das hier verursachte Flüchtlingselend verteidigt.

Fluchtursachen bekämpfen erfordert, der Koalition der "Flüchtlingskrise" den Kampf anzusagen.

Montag, 20. Juli 2015

Dr.Schäubles Plan für Europa

Ob der Wissenschaftler Yanis Varoufakis seine politische Aufgabe als Kurzzeit-Hobby-Finanzminister eines Landes der Eurozone gut oder schlecht erledigt hat, ist und bleibt umstritten. Doch was er uns aus den paar Monaten seiner Amtszeit an Beobachtungen und fundamentalen Einsichten mitteilen kann, müsste alle Europäer aufs höchste alarmieren:


ZEIT-online
SCHULDENKRISE
Dr. Schäubles Plan für Europa
Toxische Rettungsschirme, fatale Sparpolitik, massenhafte Privatisierungen: Die Griechenland-Krise hat Schäubles Vision für die EU offenbart. Stimmen die Europäer ihm zu?

von Yanis Varoufakis | 19. Juli 2015

Fünf Monate der Verhandlungen zwischen Griechenland und Europa haben uns in eine
Sackgasse geführt, weil Dr. Schäuble es so wollte.
Als ich Anfang Februar erstmals an einem der Brüsseler Treffen teilnahm, hatte sich
bereits eine mächtige Mehrheit in der Euro-Gruppe herausgebildet. Um die ernste Gestalt
des deutschen Finanzministers geschart, hatte sich diese Fraktion zum Ziel gesetzt, jede
Übereinkunft zu verhindern, die auf den Gemeinsamkeiten zwischen unserer neu gewählten
Regierung und dem Rest der Euro-Zone aufbauen würde. "Wahlen können nichts ändern"
und "Es gilt die gemeinsame Absichtserklärung oder gar nichts" lauteten einige der
typischen Äußerungen, mit denen ich bei meinem ersten Auftreten in der Euro-Gruppe
begrüßt wurde.
Fünf Monate intensiver Verhandlungen hatten somit niemals eine Chance. Sie waren dazu
verurteilt, in eine Sackgasse zu führen und den Weg für das zu bahnen, was Dr. Schäuble
für "optimal" befunden hatte, lange bevor unsere Regierung überhaupt gewählt wurde:
nämlich Griechenland aus der Euro-Zone zu drängen, um Mitgliedstaaten zu disziplinieren,
die sich seinem ganz speziellen Plan zum Umbau der Euro-Zone widersetzten. Dies ist
keine Theorie, die ich mir ausgedacht habe. Woher ich weiß, dass der Grexit ein wichtiger
Bestandteil von Dr. Schäubles Plan für Europa ist? Weil er es mir selbst gesagt hat!
Ich schreibe dies nicht als ein griechischer Politiker, der die Verunglimpfung unserer
vernünftigen Vorschläge in der deutschen Presse so kritisch sieht wie Berlins Weigerung,
unseren moderaten Plan zur Schuldenüberbrückung ernsthaft zu erwägen, oder die
hochpolitische Entscheidung der Europäischen Zentralbank, unserer Regierung die Luft
abzuschnüren, und die Entscheidung der Euro-Gruppe, der EZB grünes Licht für die
Schließung unserer Banken zu geben. Ich schreibe dies als ein Europäer, der beobachtet,
wie sich ein ganz bestimmter Plan für Europa entfaltet – Dr. Schäubles Plan. Und ich
möchte den kundigen Leserinnen und Lesern der ZEIT eine einfache Frage stellen:
Stimmen Sie diesem Plan zu? Ist dieser Plan gut für Europa?

Schäubles Vision
Die Lawine an toxischen Rettungsschirmen in der Folge der ersten Finanzkrise der Euro-
Zone hat zur Genüge bewiesen, dass die unglaubwürdige "Nichtbeistandsklausel", das
Haftungsverbot für die Verbindlichkeiten einzelner Mitgliedstaaten, ein sehr schlechter
Ersatz für eine politische Union war. Wolfgang Schäuble ist sich dessen bewusst und hat
einen unmissverständlichen Plan für eine engere Union vorgelegt. "Idealerweise wäre
Europa eine politische Union", schrieb er zusammen mit Karl Lamers, dem früheren
außenpolitischen Sprecher der CDU, am 31. August 2004 in der Financial Times (online
unter dem Titel Mehr Integration in Europa ist das richtige Ziel auf der Website
www.bundesfinanzministerium.de ).
Dr. Schäuble hat recht, wenn er für institutionelle Änderungen plädiert, die der Euro-Zone
zu ihren fehlenden politischen Mechanismen verhelfen könnten. Nicht allein weil es sonst
unmöglich ist, ihre aktuelle Krise zu meistern, sondern auch, um unsere Währungsunion
auf die nächste Krise vorzubereiten. Stellt sich nur die Frage: Ist sein konkreter Plan ein
guter? Ist es einer, den sich die Europäer zu eigen machen sollten? Und wie soll er nach
dem Willen seiner Verfasser umgesetzt werden?
Der Schäuble-Lamers-Plan basiert auf zwei Ideen. Die erste lautet: "Wie wäre es mit einem
EU-Haushaltskommissar, der nationale Haushalte zurückweisen kann, wenn sie nicht
den von uns gemeinsam vereinbarten Vorschriften entsprechen?" Und die zweite: "Wir
befürworten auch ein ›Euro-Zonen-Parlament‹ von MdEPs aus Ländern der Euro-Zone, um die demokratische Legitimation von Entscheidungen mit Auswirkung auf das Euro-
Währungsgebiet zu stärken."
Der erste Einwand gegen den Schäuble-Lamers-Plan besteht darin, dass er jeder
Vorstellung von demokratischem Föderalismus widerspricht. Eine föderale Demokratie
wie Deutschland, die Vereinigten Staaten oder Australien gründet in der Souveränität ihrer
Bürger, die sich in der positiven Vollmacht ihrer Abgeordneten niederschlägt, Gesetze zu
erlassen, die zum Vorteil des eigenen Volks sind.
In krassem Gegensatz dazu sieht der Schäuble-Lamers-Plan ausschließlich negative
Befugnisse vor: Ein europäischer Haushalts-Oberaufseher (womöglich eine verbesserte
Version des Vorsitzenden der Euro-Gruppe) wäre gegenüber den nationalen Parlamenten
einzig mit negativen, das heißt mit Vetobefugnissen ausgestattet. Bei diesem Vorhaben
gibt es ein doppeltes Problem: Erstens würde es nicht ausreichen, um die Makroökonomie
der Euro-Zone abzusichern. Und zweitens würde es gegen Grundprinzipien der westlichen
liberalen Demokratie verstoßen.
Man muss sich nur daran erinnern, was vor dem Ausbruch der Euro-Krise 2010 und in
ihrer Folge geschah. Hätte es Dr. Schäubles fiskalischen Oberaufseher damals schon
gegeben, dann hätte er oder sie ein Veto gegen die Verschwendungssucht der griechischen
Regierung einlegen können, wäre aber machtlos gegenüber dem Tsunami an Krediten
gewesen, die von privaten Banken aus Frankfurt und Paris an die privaten Banken in
der Peripherie flossen. (Hinzu kommt: Wäre der griechische Staat von Dr. Schäubles
Haushaltskommissar an weiteren Kreditaufnahmen gehindert worden, dann hätte sich
die griechische Verschuldung auf dem Umweg über die Privatbanken aufgetürmt –
wie in Irland und Spanien geschehen.) Diese Kapitalflüsse stützten eine untragbare
Verschuldung, die in dem Moment zwangsläufig wieder auf den öffentlichen Schultern
abgeladen wurde, als die Finanzmärkte zusammenbrachen. Auch nach der Krise wäre Dr.
Schäubles Haushalts-Leviathan machtlos, wenn diversen Staaten aufgrund der (direkten
oder indirekten) Rettung ihrer privaten Banken die Zahlungsunfähigkeit drohte.
Kurzum: Das neue hohe Amt, das der Schäuble-Lamers-Plan vorsieht, wäre so wenig
in der Lage gewesen, die Ursachen der Krise zu verhindern, wie er ihre Folgen hätte
bewältigen können. Zudem würde das neue hohe Amt jedes Mal, wenn es tatsächlich sein
Veto gegen einen nationalen Haushalt einlegt, die Souveränität eines europäischen Volkes
außer Kraft setzen, ohne dass diese durch eine höherrangige Souveränität auf Bundesoder
supranationaler Ebene ersetzt würde. Die Konsequenz, mit der Dr. Schäuble für
eine politische Union eintritt, die den Grundprinzipien einer demokratischen Föderation
widerspricht, ist beeindruckend. So verwarf er bereits in einem Artikel vom 8. Juni 2000
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die "akademische Debatte", ob Europa "ein
Bundesstaat oder ein Staatenbund" sein solle. Hat er recht mit der Behauptung, dass
zwischen einem Bundestaat und einem Staatenbund gar kein Unterschied besteht? Ich
behaupte, dass es eine große Bedrohung für die europäische Demokratie darstellt, wenn
man nicht zwischen beiden unterscheidet.

Voraussetzungen einer multinationalen Union
Ein oft vergessener Wesenszug liberaler Demokratien ist es, dass über die Legitimität ihrer
Gesetze und ihrer Verfassung nicht ihr rechtlicher Inhalt, sondern die Politik entscheidet.
Wer behauptet, wie Dr. Schäuble das explizit 2000 und implizit 2014 getan hat, dass
es keinen Unterschied macht, ob die Euro-Zone ein Bund souveräner Staaten oder ein
Bundesstaat ist, ignoriert bewusst, dass Letzterer politische Legitimation erzeugen kann,
Ersterer hingegen nicht.
Ein Staatenbund kann natürlich, beispielsweise als militärisches Verteidigungsbündnis,
Vereinbarungen zum wechselseitigen Vorteil gegen einen gemeinsamen Feind treffen.
Er kann sich auf gemeinsame Industriestandards einigen oder sogar eine Freihandelszone
einrichten. Niemals jedoch kann ein solcher Bund souveräner Staaten auf legitime Weise
einen Oberaufseher berufen, der das Recht hat, die Souveränität eines Staates aufzuheben,
da es keine bündnisweite Souveränität gibt, aus der sich die erforderliche politische
Legitimität für ein solches Vorgehen schöpfen ließe.
Deshalb ist der Unterschied zwischen einem Bundesstaat und einem Staatenbund von
großer Bedeutung. Denn während eine Föderation die Souveränität, die auf nationaler oder
staatlicher Ebene aufgegeben wird, durch eine neuartige Souveränität auf einheitlicher,
föderaler Ebene ersetzt, ist eine Zentralisierung der Macht in einem Staatenbund
definitionsgemäß illegitim. Ihr fehlt jeder souveräne Gesetzgeber, der ihr seine Weihen
erteilen könnte. Auch eine Euro-Kammer des Europäischen Parlaments, das selbst nicht
die Befugnis hat, nach eigenem Gutdünken Gesetze zu erlassen, kann die Vetomacht eines
Haushaltskommissars gegenüber den nationalen Parlamenten nicht legitimieren.
Oder anders formuliert: Kleine souveräne Nationen wie zum Beispiel Island müssen
Entscheidungen vor dem Hintergrund grundsätzlicher Rahmenbedingungen treffen, vor
die sie durch die Natur und durch den Rest der Menschheit gestellt werden. Mag sein
Entscheidungsspielraum auch noch so gering sein, so behält das isländische Gemeinwesen
doch die volle Autorität, seine gewählten Amtsträger für die Entscheidungen zur
Verantwortung zu ziehen, die sie angesichts der äußeren Rahmenbedingungen der Nation
getroffen haben, und jeden Rechtsakt zu revidieren, der in der Vergangenheit beschlossen
wurde. Im Unterschied dazu verlassen die Finanzminister der Euro-Zone häufig die Treffen
der Euro-Gruppe und beklagen die Beschlüsse, die sie gerade unterschrieben haben, mit der
zur Floskel gewordenen Entschuldigung, sie hätten "das Beste erreicht, was in der Euro-
Gruppe möglich war".
Die Euro-Krise hat diese Lücke im Herzen Europas drastisch vergrößert. Die Euro-Gruppe,
eine informelle Gruppe, die kein Protokoll führt, keinen schriftlich niedergelegten Regeln
folgt und exakt niemandem verantwortlich ist, steuert die größte Makroökonomie der Welt.
Zur Seite steht ihr eine Zentralbank, die darum ringt, sich an vage Regeln zu halten, die
sie im Lauf der Zeit selbst aufstellt. Ihr fehlt jede politische Gemeinschaft, die das nötige
Fundament politischer Legitimität zur Verfügung stellt, auf dem fiskalische und monetäre
Entscheidungen beruhen können.
Verspricht Dr. Schäubles Plan Abhilfe gegen dieses unhaltbare Regierungssystem? Wenn
überhaupt, dann würde er die jetzige ineffektive Makrosteuerung und den politischen
Autoritarismus der Euro-Gruppe in einen Mantel der Pseudolegitimität hüllen. Die Übel des
gegenwärtigen Staatenbunds würden in Stein gemeißelt, die Verwirklichung des Traums
einer demokratischen europäischen Föderation würde weiter in eine ungewisse Zukunft
vertagt.

Dr. Schäubles gefährliche Strategie zur Umsetzung des Schäuble-Lamers-Plans
Im vergangenen Mai hatte ich am Rande eines weiteren Treffens der Euro-Gruppe das
Privileg einer faszinierenden Unterhaltung mit Dr. Schäuble. Wir sprachen ausführlich
über Griechenland wie über die Zukunft der Euro-Zone. Auf der Tagesordnung standen an
diesem Tag unter anderem die künftigen institutionellen Veränderungen zur Stärkung der
Euro-Zone. In diesem Gespräch wurde überaus deutlich, dass Dr. Schäubles Plan die Achse
war, um die sich die Mehrheit der Finanzminister drehte.
Obwohl bei diesem Treffen von 19 Ministern nicht ausdrücklich von einem Grexit die
Rede war, gab es doch zweifellos verdeckte Anspielungen auf ihn. Ich hörte, wie ein
Kollege sagte, dass sich Mitgliedstaaten, die ihre Verpflichtungen nicht einhalten können,
nicht auf die Unteilbarkeit der Euro-Zone verlassen sollten, da verstärkte Disziplin von
äußerster Wichtigkeit sei. Einige Minister betonten die Wichtigkeit, einem permanenten
Euro-Gruppen-Vorsitzenden die Befugnis einzuräumen, Einspruch gegen nationale
Haushalte einzulegen. Andere sprachen von der Notwendigkeit, eine Euro-Kammer von
Parlamentariern zu berufen, die die Befugnisse des oder der Vorsitzenden legitimieren
könnte. Echos von Dr. Schäubles Plan verbreiteten sich im Sitzungssaal.
Von diesem Euro-Gruppen-Treffen und von meinen Diskussionen mit dem deutschen
Finanzminister aus zu urteilen, ist der Grexit der Startschuss zur Umsetzung von Dr.
Schäubles Plan. Eine kontrollierte Eskalation der jahrelangen griechischen Leiden, die
durch geschlossene Banken verschärft und zugleich durch eine gewisse humanitäre Hilfe
gelindert würden, wäre der Vorbote der neuen Euro-Zone. Auf der einen Seite würde das
Schicksal der verschwenderischen Griechen als moralisches Lehrstück für Regierungen
dienen, die mit der Idee spielen, die bestehenden "Regeln" zu ändern (zum Beispiel Italien),
oder sich der Übertragung der nationalen Souveränität auf die Euro-Gruppe widersetzen
(zum Beispiel Frankreich). Auf der anderen Seite verschaffte die Aussicht auf einen
(begrenzten) Finanzausgleich (zum Beispiel durch eine engere Bankenunion und eine
gemeinsame Arbeitslosenversicherung) das nötige Zuckerbrot, nach dem sich kleinere
Nationen sehnen.
Einmal abgesehen von sämtlichen moralischen oder philosophischen Einwänden gegen
die Idee, eine bessere Union zu schmieden, indem man das Leid eines ihrer konstitutiven
Mitgliedstaaten kontrolliert verschärft, stellen sich dringend grundsätzliche Fragen:
• Taugen die Mittel für die Zwecke?
• Ist die Abschaffung der konstitutiven Unteilbarkeit der Euro-Zone ein sicheres Mittel, um
ihre Zukunft als gemeinsame Wohlstandszone zu sichern?
• Wird die rituelle Aufopferung eines Mitgliedstaats die Europäer näher zusammenbringen?
• Stiftet das Argument, dass Wahlen in verschuldeten Mitgliedstaaten nichts ändern
können, Vertrauen in die europäischen Institutionen?
• Oder könnte nicht genau der gegenteilige Effekt eintreten, wenn Angst und Abscheu zu
festen Größen im europäischen Umgang werden?

Europas Zukunft
Die mangelhaften Grundlagen der Euro-Zone wurden zuerst in Griechenland offenbar,
bevor sich die Krise in anderen Ländern ausbreitete. Fünf Jahre später steht Griechenland
erneut im Rampenlicht, weil der einzige aus der Riege der Euro-Gründer verbliebene
Staatsmann, Dr. Schäuble, einen Plan hat, um die europäische Währungsunion zu sanieren.
Zu diesem Plan gehört es, Griechenland fallen zu lassen, weil die griechische Regierung
angeblich keine "glaubwürdigen" Reformen anzubieten hat.
Die Wahrheit ist, dass eine an Dr. Schäubles Plan und Strategie verkaufte Euro-Gruppe
nie die ernsthafte Absicht hatte, zu einem "New Deal" mit Griechenland zu kommen,
der die gemeinsamen Interessen der Gläubiger und einer Nation widerspiegeln würde,
deren Einnahmen infolge eines schrecklich fehlgeleiteten "Programms" eingebrochen sind
und deren Gesellschaft zerfällt. Das Beharren des offiziellen Europa darauf, dass dieses
fehlgeschlagene "Programm" von unserer neuen Regierung übernommen werden müsse,
war nichts weiter als der Anstoß zur Umsetzung von Dr. Schäubles Plan.
Es ist ziemlich bezeichnend, dass das Argument unserer Regierung, die griechischen
Schulden müssten bei jedem umsetzbaren Plan umstrukturiert werden, in dem Moment
Anerkennung fand, als die Verhandlungen abgebrochen wurden. Der Internationale
Währungsfonds machte den Anfang. Bemerkenswerterweise räumte auch Dr. Schäuble
ein, dass ein Schuldenerlass erforderlich wäre, fügte jedoch gleich hinzu, dass er politisch
"unmöglich" sei. Ich bin mir sicher, dass er damit in Wirklichkeit meinte, er selbst halte
ihn für ungeeignet, weil sein Ziel darin besteht, einen Grexit zu rechtfertigen, der die
Umsetzung seines Plans für Europa einläutet.
Vielleicht ist die Meinung, die ich mir als Grieche und als Beteiligter in den vergangenen
fünf Verhandlungsmonaten vom Schäuble-Lamers-Plan und dessen bevorzugten Mitteln
gebildet habe, zu voreingenommen, um in Deutschland von Belang zu sein.
Deutschland ist immer ein europäischer "Musterknabe" gewesen, und man muss dem
deutschen Volk zugutehalten, dass es immer bestrebt war, seinen Nationalstaat in ein
vereintes Europa einzubetten und in gewissem Sinne in diesem aufzugehen. Wenn ich von
meinen eigenen Ansichten in dieser Sache absehe, bleibt somit die folgende Frage:
Was halten Sie, werte Leserin, werter Leser, von Dr. Schäubles Plan? Steht er im Einklang
mit Ihrem Traum von einem demokratischen Europa? Oder wird seine Umsetzung, an
deren Anfang die Behandlung Griechenlands wie eine Mischung aus Pariastaat und
Opferlamm steht, eine endlose Rückkopplung zwischen ökonomischer Instabilität und dem
Autoritarismus auslösen, den diese speist?

Aus dem Englischen von Michael Adrian
COPYRIGHT: ZEIT ONLINE
ADRESSE: http://www.zeit.de/2015/29/schuldenkrise-europa-wolfgang-schaeuble-yanis-varoufakis

Donnerstag, 16. Juli 2015

The failed project of Europe – Jayati Gosh zur deutschen Rolle in Europa


Heiner Flassbeck
Meine indische Kollegin und Mit-Autorin (aus dem Buch „Handelt jetzt“ vom Westend-Verlag) hat eine vernichtende Kritik zur deutschen Rolle bei der „Einigung“ vom Montag geschrieben. Hier die deutsche Übersetzung:

Das gescheiterte Projekt Europa

Es gibt das stereotype Bild von dem gewalttätigen Ehemann, der seine Frau verprügelt und sie nur noch gnadenloser schlägt, wenn sie zu protestieren wagt. Ein solches gewalttätiges Verhalten ist normalerweise ein Zeichen einer gescheiterten Beziehung, die nicht mehr durch das oberflächliche Verbinden der Wunden gerettet/geheilt werden kann.

Es dreht einem den Magen um/ tut einem in der Seele weh, wenn man einen solchen Tyrannen in Aktion sieht. Aber die Welt hat die Verhandlungen in Europa über das Schicksal Griechenlands in der Eurozone mit der selben ekelerregenden Mischung aus Entsetzen und Ungläubigkeit verfolgt, als die Führer Deutschlands und anderer Länder sich in ähnlicher Weise aufführten.

Das Ausmaß an Aggression, die streng strafenden Bedingungen, die für eine sehr unnachsichtige Rettung auferlegt wurden und die schreckliche Demütigung und der Schmerz, der dem griechischen Volk aufgezwungen wurde, können kaum mit rein wirtschaftlichen oder politischen Gründen erklärt werden. Es scheint, dass hier die tief sitzende Wut der EU-Führung über ein kleines Land zum Ausdruck kommt, das die Frechheit besaß, sein Volk zu befragen, anstatt sich unmittelbar den Befehlen zu beugen. Die Wut richtet sich auch gegen das griechische Volk, das es wagte, in einem Referendum gegen die Bedingungen eines Rettungspakets zu stimmen, das ihnen nur weitere Austerität, weniger Hoffnung und eine Fortsetzung des Leids in absehbarer Zukunft bringen sollte und ihnen nur so viel ließ, um weiterhin die Auslandsschulden zu bezahlen, von denen jeder weiß, dass sie letztlich unbezahlbar sind.

Die Reaktion der EU bestand darin, den Willen der Griechen, wie er im Referendum zum Ausdruck gekommen war, zu ignorieren und ihnen für ihren Widerstand noch schlimmere Konditionen aufzubürden. Diese sind vielleicht die schrecklichsten und zutiefst demütigenden Bedingungen, die es je für eine europäische Nation in einer Nicht- Kriegssituation gab, für den zunehmend zweifelhaften Vorteil eines Verbleibs in der Eurozone.

Griechenland würde zu einem wirtschaftlichen Protektorat, kaum mehr als eine Kolonie Deutschlands in der Eurozone. Es wird keine Kontrolle über seine Finanzpolitik haben, es wird gezwungen, wertvolle öffentliche Vermögenswerte zu verkaufen und damit weiter seine Gläubiger zu bezahlen. Es wird seine Entscheidungen, einige öffentlich Beschäftigte zu erhalten, zurücknehmen müssen (wie z.B. Reinigungskräfte und Sicherheitspersonal, die nun wieder gefeuert werden müssen). Es wird weiter die Renten der alten Menschen senken, die bereits einen Rückgang ihrer Einkommen um 40 Prozent hinnehmen mussten. Es wird die direkten Steuern erhöhen müssen und damit die Ärmsten treffen. Es wird die permanente Anwesenheit externer Herrscher in der Form des IWF hinnehmen müssen, die den Haushalt und die Handlungen der griechischen Regierung überwachen. Und das Ergebnis all dieser Austerität wird weitere Depression sein in einer Wirtschaft, die sich schon seit fünf Jahren in einer Abwärtsspirale befindet. Damit wird das Aufkommen rechtsgerichteter, fremdenfeindlicher Gruppierungen begünstigt. Dies ist wirklich eine verlängerte griechische Tragödie, und ein klares Ende ist nicht in Sicht/ohne Aussicht auf ein gutes Ende.

EU-Politiker verweisen auf Länder wie Irland und Spanien oder sogar Lettland, als angebliche „Erfolgsbeispiele“ für Austerität, weil diese Länder die bittere Medizin geschluckt hätten und ihre Volkswirtschaften sich erholten. Das ist Unsinn. Keines dieser Länder musste ein so extremes Austeritätsprogramm durchmachen wie das, das Griechenland aufgezwungen wurde. Die vielgepriesene „Erholung“ erfolgt auf sehr niedrigem Einkommensniveau, das immer noch weit niedriger ist als vor fünf Jahren. Die Arbeitslosenquote ist in diesen Ländern weiterhin hoch, die Zahl der Beschäftigten (labour force numbers) sank, nachdem viele der Jungen, Besten und Klügsten ausgewandert sind. Diese Länder werden nur deshalb als Erfolge präsentiert, um für einen finanzgetriebenen Ansatz der Wirtschaftspolitik zu werben und um zu verschleiern, dass in der Eurozone der Versuch, aus der Stagnation herauszukommen, gescheitert ist.

Die lautesten Stimmen in Europa gegen diesen Betrug am Volkswillen und die Klage, dass die EU inkompatibel mit der Demokratie sei, kommen heute von Parteien vom extrem rechten Flügel wie dem Front National in Frankreich, der UK Independent Party und der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo in Italien. Die Parteien links von der Mitte sind zu sehr in das gescheiterte Europäische Projekt verwickelt um zu protestieren und progressivere Bewegungen wie Podemos in Spanien befinden sich in einem Schockzustand. Tatsächlich ist das Ziel, das Aufkommen von solchen progressiven Bewegungen zu verhindern, ein entscheidender Grund für die feindselige Haltung der EU gegenüber SYRIZA.

Aber das Drama ist noch nicht vorüber: die Demütigung Griechenlands heute wird die europäischen Führer von morgen heimsuchen. Die Idee eines vereinten Europas ist zerstört und die Realität des Projekts wird offenkundig: die Interessen des Finanzkapitals, durchgesetzt von Deutschland, grundlegend antagonistisch zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit.

Diese unglückliche europäische Ehe kann nicht fortbestehen. Die einzigen Fragen sind nun: Wie lange wird es dauern, bis das Scheitern eingestanden (explicit) wird? Wie viel Schmerz und Gewalt wird den Menschen in Europa noch zugefügt werden, bis es zum Zusammenbruch kommt? Und wie lange wird das Tyrannisieren der deutschen Regierung im Interesse des Finanzkapitals noch toleriert werden, von den Menschen in Europa und schließlich auch von den Menschen in Deutschland selbst?


Übersetzung: Stephanie Flassbeck