Le Monde diplomatique vom 09.07.2015
von Gabriel Colletis,
Jean-Philippe Robé, Robert Salais
Die aktuelle
Krise in Europa hat sich bereits in der globalen Finanzkrise von 2007/2008
angedeutet. Im Grunde schwelt sie schon seit der Einführung des Euro von
1999/2002, was vor allem an der Fehlkonstruktion der Währungsunion liegt: Wenn
feste Wechselkurse zwischen den Mitgliedstaaten – und darum geht es beim
Projekt einer Gemeinschaftswährung – überhaupt einen Sinn haben sollen, müsste
man zuallererst auf eine Konvergenz von Wirtschaftswachstum und Produktivität
hinarbeiten. Aber genau das ist in Europa nicht geschehen. So gesehen ist das
griechische Drama nur der Extremfall eines allgemeinen Problems: Die meisten
Mitglieder der Währungsunion haben Mühe, mit dem Wechselkurs des Euro gegenüber
anderen Währungen auf Dauer zurechtzukommen, ohne ihre eigene Währung bei
Bedarf abwerten zu können.
Angesichts
der gewaltigen Diskrepanzen – insbesondere zwischen Deutschland und den übrigen
Mitgliedsländern – müsste es innerhalb der Eurozone monetäre Transfers geben.
Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf den britischen Ökonomen John Maynard
Keynes, der im Juli 1944 in Bretton Woods den Grundstein für das internationale
Währungssystem legte. Keynes’ Vorschlag ließe sich ohne Weiteres auf die
Eurozone übertragen: Demnach müssen die Länder ihre Zahlungsbilanzen
gemeinschaftlich managen, um sie mehr oder weniger im Gleichgewicht zu halten.
Dies lässt sich nicht durch Finanztransfers sowie interne Abwertung1
erreichen, sondern nur durch Investitionen der Überschussländer in den
Defizitländern.
Was ist
heute das Hauptproblem Griechenlands? Die meisten Leute würden sagen: die
Unfähigkeit des Landes, seine Schulden zu begleichen. Laut einer vom
griechischen Parlament eingerichteten Untersuchungskommission sind folgende
Ursachen für den Schuldenberg verantwortlich: der starke Anstieg der Zinsen
zwischen 1988 bis 2000, die extrem hohen Militärausgaben und der dramatische
Rückgang öffentlicher Einnahmen seit 2000 infolge von Steuerflucht und
Steueramnestien für die Reichen.
Das sind
zwar keineswegs alle Gründe. Aber die Verschuldung ist ohnehin nicht die
Ursache aller Übel, die durch die Schulden nur verschlimmert werden. Das
grundlegende Problem ist die Unterentwicklung des Produktionssektors und dessen
logisches Gegenstück: die starke Abhängigkeit Griechenlands von ausländischem
Kapital.
Zum jetzigen
Zeitpunkt hieße ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone, der eine massive
Abwertung der (neuen) griechischen Währung zur Folge hätte, dass sich die
Griechen kaum noch die Dinge leisten könnten, die sie zum Leben brauchen.2
Das Land importiert nicht nur so gut wie alle Investitions- und dauerhaften
Gebrauchsgüter. Auch in den Bereichen Energie, Arzneimittel, Textilien und
elektrische Geräte ist die Handelsbilanz tief in den roten Zahlen. Und selbst
bei Agrarprodukten überwiegen die Importe die griechischen Exporte.
Nachdem
Griechenland 1981 der Europäischen Gemeinschaft beigetreten war, hat sich der
Konsum relativ schnell dem der reicheren Mitgliedstaaten angenähert.
Gleichzeitig gab es in der Industrie einen massiven Einbruch: Ihr Beitrag zum
Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank im Zeitraum 1980 bis 2009 von 17 auf rund 10
Prozent. Zwischen 2009 und 2013 stürzte die Industrieproduktion dann noch um
weitere 30 Prozent ab.
Das ist der
Grund, warum Griechenland heute fast vollständig vom Tourismus und von
Kapitaltransfers aus dem Ausland abhängig ist, um seine Leistungsbilanz
ausgeglichen zu gestalten. Dabei stammten die Transfersummen früher
größtenteils von den Griechen, die auf der Suche nach Arbeit in alle Welt
ausgewandert waren. Diese Rücküberweisungen der „Gastarbeiter“ wurden ab 1981
zunehmend durch Gelder aus den Hilfs- und Entwicklungsfonds der EU ersetzt.
Doch in den 1980er Jahren beschaffte sich Griechenland – und zwar Banken wie
private Unternehmen und letztlich auch der Staat – zusätzlich immer mehr
Kapital an den internationalen Finanzmärkten, was den drastischen Anstieg der
griechischen Zinsbelastung erklärt.
Die
Transfers aus dem Ausland sind jedoch unverzichtbar, da die inländische
Wirtschaftsleistung weder zur Aufrechterhaltung von Einkommen und Konsum noch
zur Finanzierung des Staats und der öffentlichen Dienstleistungen ausreicht.
Diese Kombination eines unterentwickelten industriellen Sektors auf der einen
und der Abhängigkeit von ausländischen Finanzmitteln auf der anderen Seite
machte das griechische Drama letzten Endes unvermeidlich.
Griechenland
braucht Investitionen statt Kredite
Seit 2008
standen die wechselnden Regierungen vor einem doppelten Defizit, nämlich der
Außenhandelsbilanz und des Staatshaushalts. Bis 2015, also bis zur Koalition
unter ND-Chef Samaras, bestand ihre Reaktion stets darin, den Verbrauch zu
drosseln3 und die öffentlichen Ausgaben zu kürzen.4 Das
Absenken der Masseneinkommen sollte das Handelsbilanzdefizit, die Kürzung der
staatlichen Ausgaben das Haushaltsdefizit senken. Wie die Folgen dieser
unseligen Politik in der Praxis aussahen, ist hinlänglich bekannt: Das
Bruttoinlandsprodukt schrumpfte um 25 Prozent, die Arbeitslosenquote stieg
auf über 27 Prozent, und selbst die Verschuldung erhöhte sich weiter bis
auf 177 Prozent des BIPs.
Sogar der
IWF gestand 2013 ein, dass die Griechenland aufgezwungenen Bedingungen ein
Fehler waren.5 Dennoch bestand er in den jüngsten Verhandlungen auf
einer weiteren Kürzung der Renten und einer Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Wie könnte
eine Alternative aussehen? Ein einseitig vollzogener Schuldenschnitt würde die
Spannungen zwischen Athen und den Institutionen verschärfen und damit einen
Grexit noch näher rücken. Einen teilweisen Schuldenerlass wiederum hat die
Mehrheit der Gläubiger ausgeschlossen. Damit wäre im Übrigen nur etwas Zeit
gewonnen, womit man eine dauerhafte Lösung noch weiter aufschieben würde.
Es gibt
jedoch einen Ausweg aus der Misere. Die Schuldenkrise ist die perfekte
Gelegenheit, die Industrialisierung der europäischen Länder voranzutreiben, die
in ähnlichen Schwierigkeiten wie Griechenland stecken. Es wäre also ein Projekt,
das weit über den Fall Griechenlands hinausreicht.
Die als
nicht rückzahlbar geltenden griechischen Schulden, die größtenteils zwischen
2016 und 2024 fällig werden, belaufen sich auf mindestens 50 Milliarden Euro.
Das entspricht etwa 15 Prozent der Gesamtverschuldung. Eine auf dem
Industrialisierungsplan basierende Strategie dürfte den Gläubigern die
Rückzahlung garantieren.
Wie soll das
gehen? Der griechische Staatshaushalt weist derzeit (noch) einen
Primärüberschuss aus, das heißt: Ohne den Schuldendienst gibt die Regierung
weniger Geld aus, als sie durch Steuern einnimmt. Man kann diesen Überschuss
auf zweierlei Weise betrachten: als Potenzial für die Rückzahlung des Schulden,
wie es Griechenlands Gläubiger tun; oder aber als Fonds für künftige Investitionen.
Die zweite
Lösung würde allerdings eine Restrukturierung der Schulden voraussetzen, und
zwar nicht mittels weiterer Kredite von IWF oder EU. Diese Umschuldung würde
auf zweierlei Weise geschehen: Erstens müssten die derzeit von IWF und Europäischer
Zentralbank (EZB) gehaltenen Schuldscheine mit Fälligkeit zwischen 2016 und
2024 – das sind rund 70 Prozent der gesamten Schulden – an die EU-Staaten
übertragen werden. Und zweitens wären die Fälligkeitsdaten so flexibel zu
gestalten, dass die Rückzahlungen in einem gegebenen Zeitraum den
Primärüberschuss nie übersteigen dürfen, wie die griechische Regierung und
Finanzminister Varoufakis seit Langem fordern.
Die
EU-Staaten, die von IWF und EZB die griechischen Schuldverschreibungen
übernehmen, müssten im nächsten Schritt ihre Forderungen in Höhe von 50
Milliarden Euro an bilaterale staatliche Investitionsfonds überschreiben. Diese
würden von öffentlichen Institutionen Griechenlands und der jeweils beteiligten
Staaten gemanagt – etwa von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) oder der
französischen Banque publique d’investissement (BPI).6
Griechenland
würde unterdessen weiter seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen, aber – und
das ist der springende Punkt – das Geld ginge nunmehr an die Fonds, aus denen
produktive Investitionen im Land finanziert werden. Die griechischen Zahlungen
würden also nicht mehr einfach die Kassen der Gläubiger füllen, sondern in die
Entwicklung der griechischen Industrie fließen. Die Gläubigerstaaten respektive
Investoren erhalten ihr Geld zurück, sobald die Investitionen umgesetzt sind
und die Investitionsobjekte verkauft werden können. Das europäische
Wettbewerbsrecht hat bislang staatliche Investitionsfonds akzeptiert. Es ist
daher kaum vorstellbar, dass die Kommission solche bilateralen Fonds, die ganz
ähnlichen Zielen verpflichtet sind, ablehnt.
Arbeitsteilung
ist besser als Konkurrenz
Für die
Koordinierung der Investitionen wäre in erster Linie eine griechische
Entwicklungsbank zuständig, die zugleich als griechischer Partner der
bilateralen Fonds fungiert. Diese könnte von den Erfahrungen staatlicher
Investitionsfonds profitieren und wäre auch besser gegen Korruption und
Misswirtschaft gefeit. Denkbar ist auch, dass die Europäische Investitionsbank
(EIB), die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und
vielleicht auch die Weltbank ihre Erfahrungen und sogar Investitionen zu
ausgewählten Projekten beisteuern.
Ein
derartiger Vorschlag setzt allerdings zweierlei voraus: eine gewisse Fantasie
aufseiten der europäischen Regierungen. Und auf griechischer Seite die
Bereitschaft zu tiefgreifenden institutionellen Reformen. Vor allem müssten die
Griechen ihr altes Wirtschaftsmodell überwinden, das auf Einnahmen aus dem
Tourismus und aus Immobilien- oder Importgeschäften beruht und obendrein von
klientelistischen Beziehungen durchsetzt ist.
Dringend
notwendig sind überdies neue Institutionen wie die bereits beschlossene
griechische Entwicklungsbank, neue steuerliche Regelungen für ausländische
Investoren sowie die Erstellung eines Katasters für ganz Griechenland und
weitere Reformen, die insgesamt auf einen umfassenden institutionellen Umbau
hinauslaufen. Ohne ein solches nationales Entwicklungsprojekt wird Griechenland
nicht aus der ererbten schwierigen Lage herauskommen, die durch die Sparpolitik
ans Licht gebracht, zugleich aber noch verschlimmert wurde.
Die
Anstrengungen würden sich ganz sicher lohnen: Die zu Investoren gewordenen
Gläubiger würden einen Beitrag zur Industrialisierung Griechenlands leisten und
damit zur Senkung der Arbeitslosigkeit, zur Ankurbelung des Konsums, zur
Steigerung der Steuereinnahmen und nicht zuletzt, aufgrund der festen
Verankerung des Landes in der Eurozone, zur Rückkehr geflohenen Kapitals
beitragen.
Eine
Konjunkturbelebung in den verschuldeten Eurostaaten würde im Interesse der
gesamten Union liegen. Derzeit beschränkt sich die Europäische Kommission
darauf, eine möglichst direkte Konkurrenz zwischen den nationalen Industrien zu
organisieren. Mit Hilfe der geschilderten Strategie würde sich jedoch die
industrielle Arbeitsteilung in Europa verbessern und vertiefen. Man könnte etwa
das griechische Know-how in der Lebensmittelproduktion und Naturkosmetik, im
Schiffbau und selbst in Teilbereichen der Raumfahrt ausbauen und damit die industrielle
Basis der ganzen Region stärken.
Käme ein
solches Modell auch in anderen Schuldnerländern zum Zuge, könnte dies zu einem
echten gesamteuropäischen Aufschwung beitragen. Ein ökologischer, humaner und
solidarischer Entwicklungspfad für Europa, der in Richtung Energiewende und
Nachhaltigkeit führt, wäre ein erster Schritt zur Neubegründung des europäischen
Projekts – auf einer ganz neuen Basis.
1 Gemeint ist eine Senkung von Löhnen und Preisen, durch
die Exporte begünstigt werden sollen, allerdings auf Kosten der Bevölkerung des
Landes. Der Effekt für die Handelsbilanz entspricht dem einer Abwertung der
heimischen Währung.
2 Siehe auch Niels Kadritzke, „Grexit und was dann?“, Le
Monde diplomatique, Juni 2015.
3 Die Kaufkraft der griechischen Privathaushalte ist zwischen 2009 und 2013
um durchschnittlich 25 Prozent geschrumpft.
4 Die Ausgaben für das Gesundheitswesen wurden zwischen 2008 und 2011 um 28
Prozent und die Bildungsausgaben um 15 Prozent gekürzt.
5 Internationaler Währungsfonds, „Greece: ex post evaluation of exceptional
access under the 2010 stand-by arrangement”, IMF Country Report 13/156,
Washington, D. C., Juni 2013.
6 Der deutsch-griechische Fonds würde 27 Prozent der Forderungen an den
griechischen Staat halten, der französisch-griechische 20 Prozent und so
weiter.
Aus dem
Französischen von Nicola Liebert
Gabriel
Colletis ist Wirtschaftsprofessor an der Universität Toulouse-1 Capitole.
Jean-Philippe Robé ist Anwalt und Robert Salais ist emeritierter
Forschungsleiter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS).
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