Auszug aus: „Lernen von Marine Le Pen“, von Daniel Binswanger, Das Magazin (Schweiz), 09.12.2015
„…
Es ist sicher richtig, dass Le Pen vom aktuellen Klima der
Angst profitiert und dass ihre Kampagnen gegen die maghrebinische Minderheit
heute besser verfangen als noch vor einem Monat. Dennoch ist die
Erklärungskraft der Attentate begrenzt. Die rasanten Zuwächse des FN haben viel
früher eingesetzt, lange vor dem Bataclan, lange vor Charlie Hebdo. Die heutige
Steigerung stellt nichts anderes dar als die Verlängerung einer mehrjährigen
Erfolgskurve. Ein Dammbruch hat nicht stattgefunden. Der Front National profitiert
von einer langfristigen Entwicklung, deren Dynamik so schnell nicht wieder
abflauen wird.
Nicht der Terrorismus, Europa ist die Erklärung. Nicht die
Kalaschnikow, der Euro droht der Rechtspopulistin den Weg in den Élysée-Palast
zu ebnen. Das heutige Programm des Front National besteht in seinem Kern in
einer Rückgängigmachung der französischen EU-Integration: Austritt aus dem
Euro, Aufkündigung von Schengen, Widerrufung der Zollunion. Marine Le Pens
«Entdiabolisierung» des FN besteht weitgehend darin, das antisemitische
Gepoltere ihres Vaters durch ein EU-feindliches Wirtschaftsprogramm zu ersetzen.
Sie gibt sich damit nicht nur ein gemäßigteres, pragmatischeres Image. Sie
gewinnt auch massiv an Glaubwürdigkeit. Denn obschon ihre Versprechungen
demagogisch und unrealistisch sind, hat sie in einem Punkt recht: Die heutige
Wirtschaftspolitik innerhalb der Eurozone schadet Frankreich. Wird sie nicht
fundamental korrigiert, dürfte der Euro-Austritt irgendwann nicht mehr zu
verhindern sein – vermutlich unter einer Präsidentin namens Le Pen.
Die französische Wirtschaftskrise hat selbstverständlich vielschichtige Ursachen, aber der Euro – so wie er heute funktioniert – ist der entscheidende Faktor. Frankreich war Ende der Neunzigerjahre die europäische Konjunkturlokomotive. Die Produktivitätsentwicklung war vorbildlich, die Lohnentwicklung blieb vernünftig, die hohe Staatsquote hat nicht geschadet (dass stets der Staat das Problem ist, glauben nur Leute, die volkswirtschaftliche Statistiken gar nicht erst zur Kenntnis nehmen). Das Problem Frankreichs liegt darin, dass es außenwirtschaftlich auf Gedeih und Verderb von Deutschland, seinem mit Abstand wichtigsten Handelspartner, abhängig ist. Im Jahr 2003 beschloss die Schröder-Regierung die Agenda 2010, im Jahr 2004 kippte die französische Handelsbilanz mit Deutschland zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung ins Negative. Auf dem Krisenhöhepunkt 2011 lag das Gesamtaußenhandelsdefizit bei über 90 Milliarden, im Jahr 2014 immer noch bei 86 Milliarden Euro. Etwa 40 Prozent des Defizits entfallen auf den direkten Außenhandel mit Deutschland. Frankreich ist innerhalb der Eurozone Deutschland gegenüber nicht mehr konkurrenzfähig. Solange dieses Ungleichgewicht nicht korrigiert wird, hat Frankreich keine realistischen Aussichten sich zu erholen, und solange sich die Konjunkturaussichten nicht bessern und die Jugendarbeitslosigkeit nicht wenigstens wieder unter 20 Prozent fällt, darf Le Pen voller Optimismus in die Zukunft blicken. Das ist die Lektion von Marines Triumph. Eine Lektion, die man im übrigen Europa nicht zur Kenntnis nehmen will.“
Die französische Wirtschaftskrise hat selbstverständlich vielschichtige Ursachen, aber der Euro – so wie er heute funktioniert – ist der entscheidende Faktor. Frankreich war Ende der Neunzigerjahre die europäische Konjunkturlokomotive. Die Produktivitätsentwicklung war vorbildlich, die Lohnentwicklung blieb vernünftig, die hohe Staatsquote hat nicht geschadet (dass stets der Staat das Problem ist, glauben nur Leute, die volkswirtschaftliche Statistiken gar nicht erst zur Kenntnis nehmen). Das Problem Frankreichs liegt darin, dass es außenwirtschaftlich auf Gedeih und Verderb von Deutschland, seinem mit Abstand wichtigsten Handelspartner, abhängig ist. Im Jahr 2003 beschloss die Schröder-Regierung die Agenda 2010, im Jahr 2004 kippte die französische Handelsbilanz mit Deutschland zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung ins Negative. Auf dem Krisenhöhepunkt 2011 lag das Gesamtaußenhandelsdefizit bei über 90 Milliarden, im Jahr 2014 immer noch bei 86 Milliarden Euro. Etwa 40 Prozent des Defizits entfallen auf den direkten Außenhandel mit Deutschland. Frankreich ist innerhalb der Eurozone Deutschland gegenüber nicht mehr konkurrenzfähig. Solange dieses Ungleichgewicht nicht korrigiert wird, hat Frankreich keine realistischen Aussichten sich zu erholen, und solange sich die Konjunkturaussichten nicht bessern und die Jugendarbeitslosigkeit nicht wenigstens wieder unter 20 Prozent fällt, darf Le Pen voller Optimismus in die Zukunft blicken. Das ist die Lektion von Marines Triumph. Eine Lektion, die man im übrigen Europa nicht zur Kenntnis nehmen will.“
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