Mittwoch, 27. Januar 2016

"Wer gegen Flüchtlinge hetzt, hat in der Gewerkschaft nichts verloren"


Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) - Landesverbandes Nordrhein-Westfalen beschloss einstimmig diese Resolution „gegen Fremdenfeindlichkeit und Hetze“:


10 Punkte gegen Fremdenfeindlichkeit und Hetze – Resolution für Flüchtlinge
  1. Als Eisenbahner begegnen wir täglich Flüchtlingen.
Ob in den Reisezentren, auf den Bahnsteigen, in den Zügen des Fern- und Regionalverkehrs: Flüchtlinge begegnen den Bahn-Beschäftigten in NRW überall. Kleine Hilfen und große Hilfsaktionen sind gefragt. Im Alltag der Bahnerinnen und Bahner sind es oft Antworten auf ganz einfache Fragen: Wie heißt der Bahnhof in der Nähe meiner Unterkunft? Gibt es den Fahrplan auch auf Englisch? Muss ich vor der Polizei Angst haben, oder hilft sie mir? In Nordrhein-Westfalen haben Eisenbahnerinnen und Eisenbahner seit jeher Erfahrung im Umgang mit Menschen aus anderen Nationen. Wir begegnen diesen Menschen – Touristen genauso wie Flüchtlingen – mit Respekt, Entgegenkommen, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Jeder Flüchtling, der zu uns kommt, hat ein besonderes Schicksal. Die EVG in NRW heißt schon deshalb Flüchtlinge besonders willkommen.
  1. Wer gegen Menschen in Not hetzt, hat in unserer Gewerkschaft keinen Platz!
In den sozialen Netzwerken sind Hass und Hetze gegen Flüchtlinge unerträglich geworden. Viele Nutzer schrecken nicht vor Nazi-Begriffen und offenen Gewaltandrohungen zurück. Davor kann keine Gewerkschaft die Augen verschließen. Fest steht: Wer gegen Flüchtlinge hetzt, der hat in der EVG nichts verloren!
  1. Das ehrenamtliche Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger sowie von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern hat unsere volle Unterstützung.
Tausende Menschen engagieren sich in NRW für Flüchtlinge, sie spenden Kleidung, geben Deutsch-Unterricht, helfen bei Briefen ans Amt. Auch viele EVG-Mitglieder sind ehrenamtlich aktiv. Das hat unsere volle Unterstützung und verdient unsereAnerkennung. Aber es ist auch klar: Ohne deutlich mehr staatliche Anstrengungen wird es nicht gehen – von der sprachlichen und beruflichen Integration bis zum menschenwürdigen wohnen.
  1. Zuwanderung ist eine große Chance für die Gesellschaft, keine Gefahr. NRW wurde wirtschaftlich stark durch Zuwanderung.
Von den Bergarbeitern aus Osteuropa und Frankreich der vorletzten Jahrhundertwende bis hin zu den türkischen, griechischen, italienischen, spanischen und jugoslawischen Gastarbeitern der 60er und 70er Jahre: Nordrhein-Westfalen wäre ohne Migranten und Flüchtlinge nicht das, was es heute ist. Zuwanderer sind keine Gefahr, sondern eine Bereicherung. Und: Viele von denen, die jetzt Hass gegen Flüchtlinge verbreiten, stammen selbst von Flüchtlingen ab. Nach all der Flucht und Vertreibung – auch der Deutschen – im 20. Jahrhundert müsste das eigentlich jeder wissen.
  1. Uns droht keine Islamisierung, sondern eine neue Gefahr von rechts.
Diejenigen, die am meisten Vorurteile gegen den Islam verbreiten, wissen oft am wenigsten darüber. Ja, es gibt Fanatiker und Radikale auch unter Muslimen – wie in jeder Religion. Doch genau vor denen fliehen viele der Flüchtlinge. Die konkrete Gefahr, die jetzt gebannt werden muss, geht im Moment von rechten Stimmungsmachern im Netz und auf der Straße aus.
  1. Smartphones sind für Flüchtlinge kein Luxus, sondern lebenswichtig.
Ein beliebtes Vorurteil gegenüber Flüchtlingen lautet, sie hätten die neuesten Smartphones, könnten also „nicht so arm dran sein“. Das ist Unsinn. Denn Smart- Phones mit Internet-Empfang sind für Flüchtlinge keine Spielerei, sondern überlebensnotwendig. So orientieren sie sich auf der Flucht und halten den Kontakt zu ihren Angehörigen.
  1. Menschen fliehen nicht Tausende Kilometer, um in Deutschland 143 Euro Taschengeld zu bekommen. Sie sind in Not.
Neben Verpflegung und Unterbringung erhalten Asylbewerber derzeit 143 Euro Taschengeld im Monat. Niemand verlässt deshalb seine Heimat. Und niemand riskiert dafür sein Leben. Wenn Menschen in Not sind, braucht es keinen Neid, sondern Mitgefühl. Es ist eine Schande, wenn Flüchtlinge auch noch in Deutschland um ihre Sicherheit fürchten müssen, weil Rechte die Asylunterkünfte bedrohen.
  1. In der Flüchtlingskrise ist das Know-how der Eisenbahner gefragt. Aber auch die Bahn ist gefordert.
Bahn-Mitarbeiter leisten einen enormen Beitrag für die Bewältigung der Flüchtlingskrise. In den Zügen und an den Bahnhöfen sorgen sie dafür, dass Hunderttausende innerhalb Deutschlands und in NRW an ihr Ziel kommen. Die Sympathie und Solidarität mit den Flüchtlingen ist groß – aber auch die Belastung. Deshalb ist auch die Deutsche Bahn gefordert, für Entlastung zu sorgen. Durch mehr Personal, mehr Züge und mehr finanzielle Mittel.
  1. Die Bahn braucht Fachkräfte – und kann vielen Flüchtlingen eine Perspektive geben.
Hinzu kommt: Die Flüchtlinge sind auch eine riesige Chance für die Bahn selbst. Viele von ihnen sind in dem Alter, in dem eine Ausbildung beginnt. Mit Blick auf den drohenden Fachkräftemangel gerade in den technischen Berufen birgt die Zuwanderung auch ein großes Potential. Für die EVG NRW ist klar: Viele Asylsuchende von heute werden die Kollegen von morgen sein.
  1. Angst ist kein guter Ratgeber. Empathie und Solidarität mit den Flüchtlingen stehen uns gut zu Gesicht.
Bei allen praktischen Herausforderungen stehen bei der Flüchtlingsdebatte aus Sicht der EVG NRW grundsätzliche Fragen im Mittelpunkt: Schaffen wir es, den zu uns kommenden Menschen mit Empathie und Solidarität zu begegnen? Sind wir dafür bereit, uns mit Hetzern und Fremdenfeinden anzulegen? Die Antwort darauf kann nur „Ja“ sein. Als Eisenbahner stehen wir in der Pflicht gegenüber dem (Fahr-)Gast. Als Gewerkschafter stehen wir in der Pflicht gegenüber dem Schwächeren. Daher verdienen Fremdenfeinde die rote Karte. Menschen in Not verdienen unsere volle Unterstützung.

Dienstag, 26. Januar 2016

„Plan B“: Verteidigung demokratischer Souveränität gegen das Euro-Regime ist nicht Nationalismus



Martin Höpner und Andreas Nölke besuchten Mitte Januar die Auftakttagung der internationalen Initiative „Plan B“, zu der Jean-Luc Mélenchon, Oskar Lafontaine, Stefano Massina und Zoe Konstantopoulou nach Paris eingeladen hatten. Es ging um Wege zum Ausstieg aus der Austeritätspolitik, das Ersetzen des Euro durch ein neues Europäisches Währungssystem (EWS), die Gefahr eines Währungskriegs und die europäische Flüchtlingskrise. Sie berichteten:

 „Nicht nur in den südlichen Krisenländern, sondern auch und gerade in Italien und Frankreich wird der Euro als lange Sequenz illegitimer Übergriffe und nationaler Erniedrigungen durch die europäischen Institutionen und vor allem durch Deutschland erlebt. Die Leitfrage nahezu aller Redner lautete: Wie lässt sich heute, gegen die EU und gegen Deutschland, ein Mindestmaß an demokratischer Souveränität und Selbstbestimmung zurückgewinnen?“
„Gerade progressive Kräfte in Deutschland halten die europäische Integration oft für ein Programm gegen den Nationalstaat und Begriffe wie „Souveränität“ und „nationale Selbstbestimmung“ daher für Kategorien Ewiggestriger. Wer im Gespräch mit den europäischen Partnern auf dieser Sichtweise beharrt und dem überragenden Stellenwert der nationalen demokratischen Selbstbestimmung die Berechtigung abspricht, wird auf Granit beißen. Und erst recht, wer unsere Nachbarn im Rahmen der Flüchtlingskrise über den Wert internationaler Solidarität und ethisch überlegenes Verhalten aufklären möchte. Sie wollen es nicht hören und haben damit völlig Recht.“
„Erst nach und nach wird deutlich, was der Euro und das deutsche Verhalten in ihm alles kaputtgemacht haben.“

Donnerstag, 21. Januar 2016

Populismus heute – Teil 4 / Schluss: Ein Krisensymptom verschärft die Krise


In acht europäischen Staaten sind populistische Parteien heute an Regierungen beteiligt (Norwegen, Finnland, Lettland, Litauen, Griechenland, Schweiz, in Ungarn und Polen stellen sie allein die Regierungen; in Italien war Silvio Berlusconi von 1994 bis 2011 viermal Regierungschef).

Doch Populisten können die politische Landschaft schon stark prägen, ohne selbst (mit-) zu regieren. Sie wären weitaus weniger erfolgreich, wenn in ihren Anklagen nicht immer ein Körnchen Wahrheit steckte. Als Krisensymptom reagiert der Populismus auf die Monopolstellung des regierenden Parteienkartells sowie die Verengung von Politik auf technokratische „Governance“, Auslagerung politischer Entscheidungen auf demokratisch nicht legitimierte Experten und Bürokratie. Sinkende Wahlbeteiligung, Mitgliederschwund der etablierten Parteien und eine wachsende „Politikverdrossenheit“, vor allem in den unteren sozialen Schichten, verweisen auf ein demokratisches Defizit, das durch die supranationale EU-Bürokratie noch erheblich verstärkt wird. Das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber intransparenten Prozessen war und ist immer ein Nährboden des Populismus.

Da die Anrufung der bedrohten Volksgemeinschaft aber niemals die tatsächlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Interessengegensätze innerhalb ihrer Anhängerschaft aufhebt, haben populistische Demagogen in der Regel nur so lange Aufwind, wie sie ihre Versprechen nicht einlösen müssen. Viele Vertreter des Populismus verlegen sich deshalb auf eine Strategie, den politischen Streit zu verschärfen und damit die Regierenden vor sich her zu treiben.

Die etablierten Parteien reagieren auf Mobilisierungs- und Wahlerfolge der Populisten, indem sie sich selbst eine teilweise populistische Programmatik und Rhetorik aneignen, um jene zu verdrängen. Damit tragen sie jedoch nur zu weiteren Erfolgen der Populisten bei, indem sie sie einerseits in ihren Zielen und ihrem Auftreten und anderseits in ihrer „Außenseiterrolle“ bestätigen. Die populistischen Parteien können folglich für sich reklamieren, die „richtigen“ Konzepte zu besitzen, und gleichzeitig darauf verweisen, dass diese Verdrängungsbemühungen von einer grundlegenden Feindschaft der etablierten Parteien zum Volk und seinem Anwalt, dem Populismus, zeugen.

Heute haben die bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien durchweg bereits zahlreiche populistische Positionen und Methoden übernommen. Vor allem die großen "Volksparteien" nähern sich in Auftreten und Programmatik dem Populismus an, indem sie etwa Wahlkämpfe stark auf Führungsfiguren zuschneiden, ihre Politik über die Medien inszenieren, komplexe Probleme auf "populäre", aber zu einfache Parolen verkürzen (z.B. eine „Obergrenze“ für die Aufnahme von Flüchtlingen anstatt der Asylrechtsgarantie des Grundgesetzes – oder Grenzschließung anstatt Bekämpfung von Fluchtursachen) usw.

Das heißt nicht zwangsläufig, dass diese Parteien auch ein populistisches Gesellschafts- und Staatsverständnis übernehmen. Aber so beschleunigt der Populismus genau die Fehlentwicklungen der modernen Demokratie, denen er seine Entstehung und Ausbreitung verdankt, nämlich das Verflachen des notwendigen Richtungsstreits um die Zukunft der Gesellschaft zu sinnleerem Spektakel um bloßen Machterhalt. So wirkt das kapitalistische Krisensymptom Populismus selbst krisenverschärfend.

Freitag, 15. Januar 2016

Populismus heute: Krisensymptom des Kapitalismus – Teil 3

Nachdem der zweite Teil unserer Folge über „Populismus heute“ in diesem Blog einen Abriss der Entstehungsgeschichte populistischer Parteien in Europa ab dem Ende der 1970er Jahre gab (08.01.2016), soll es jetzt um die wesentlichen Inhalte populistischer Programme gehen. Vorweg muss daran erinnert werden, dass „Populismus“ keine eigene, in sich geschlossene Ideologie darstellt, sondern ad hoc, sozusagen nach Tagesbedarf passende Elemente bestehender Ideologien aufsaugt. Die Politikwissenschaftlerin Karin Priester (Uni Münster) charakterisiert ihn daher als "bloßes Bündel von Vorstellungen“, deren programmatische Beliebigkeit es nahelegt, „ihn lediglich als eine Strategie des Machterwerbs zu definieren.“ Dennoch finden sich einige gemeinsame Grundzüge in den Politikkonzepten der meisten populistischen Parteien von heute:

Populisten sehen sich als Sprachrohr einer „schweigenden Mehrheit“, wobei sie unterstellen, dass es einen authentischen „Volkswillen“ gebe. Dem „Volk“ werden Tugenden und Werte zugeschrieben, mit denen sich die Bevölkerungsmehrheit identifizieren kann, etwa ein „gesunder Menschenverstand“, Anständigkeit und Ehrlichkeit. Im Zentrum populistischer Programmatik steht somit die Identitätsstiftung einer amorphen Bevölkerungsmehrheit durch Abgrenzung gegenüber Politik und sozialen bzw. ethnischen Minderheiten, die jeweils für Probleme verantwortlich gemacht und als deren Verursacher denunziert werden. Eine Identitätspolitik, in der eine bedrohte Gemeinschaft konstruiert wird. Heinz Strache (FPÖ): "Das Volk hat ein gutes Gespür für Recht und Unrecht. Und dort, wo Unrecht zu Recht wird, da wird Widerstand zur Pflicht!"

Anti-Intellektualismus: Gefühl statt Verstand. Populisten sprechen diffuse Ängste der Bevölkerung vor Modernisierung und Umbrüchen wie der „Globalisierung“ oder der „Demografie“ an und beantworten sie mit monokausalen, kurzschlüssigen oder pseudowissenschatlichen Deutungen und einfachen, einseitigen Parolen. Probleme werden nicht als Ergebnis sozialer Strukturen und wirtschaftlicher Prozesse, sondern als die Schuld bestimmter Gruppen gesehen und personalisiert. So führen sie etwa Kriminalität unter Migranten nicht auf deren soziale Benachteiligung zurück, sondern erklären sie zum immanenten Bestandteil der Kultur der Zuwanderer. Der Parteienforscher Pelinka sieht den Populismus vor allem bei Modernisierungsverlierern erfolgreich.

"Antipolitik": Sie bekämpfen die etablierten Parteien und die politische Klasse, die pauschal als korrupt, machtbesessen und volksfern hingestellt werden. „Wir“ gegen „Die-da-oben“. Indem sie der politischen Elite und Minderheiten die Schuld an Missständen geben, mobilisieren sie vor allem unpolitische, bildungsferne Teile der Bevölkerung, die Politik schlechthin für ein "schmutziges Geschäft" halten. Silvio Berlusconi (Popolo della Libertà in Italien): "Ich bin kein Politiker, ich kümmere mich nicht um Kritik. Ich sage das, was die Leute denken." Dadurch kann der Populismus Anhänger aus allen Gesellschaftsschichten – Bauern, Arbeiter, Selbstständige, Ärzte, Manager, Arbeitslose, Hausfrauen – gewinnen.

Anti-demokratisch: Populisten übernehmen zwar Positionen der extremen Rechten, aber ohne deren offen erklärte Gegnerschaft zu Demokratie und Parlamentarismus. Implizit oder explizit wenden sie sich gegen bestimmte zentrale Elemente der Demokratie wie den Pluralismus, den Minderheitenschutz oder die Religionsfreiheit. Einerseits fordern sie einen starken Staat, z.B. in der Kriminalitätsbekämpfung, stellen aber anderseits das staatliche Gewaltmonopol in Frage, weil nach ihrer Meinung die etablierte Politik den Staat „wehrlos“ mache, oder weil sie die Legitimität der politischen Klasse generell bestreiten, da diese den Volkswillen verfälsche. Im Unterschied zu direkt-demokratischen Verfahren, die auf Kontrolle der Delegierten durch ihre Wähler (dem gebundenen Mandat) beruhen, befürworten sie einen spontanen Voluntarismus in einer Akklamationsdemokratie.

Im allgemeinen verzichten sie auf ein „völkisch“ geprägtes Weltbild; an Stelle des klassischen Rassismus tritt ein kultureller Rassismus, der die nationale Kultur gegen Einwanderer, ethnische Minderheiten und die Europäische Union stellt: Kulturelle Vielfalt wird als „Multikulti“ diffamiert und mit "Überfremdung" gleichgesetzt. Behauptet wird ein Gegensatz zwischen Demokratie, Wohlstand und Sicherheit als „abendländischer“ bzw. nationaler Kultur auf der einen und der – minderwertigen – Kultur der „Fremdartigen“ auf der anderen Seite. 

Repressiv: Sie propagieren eine Law-and-Order-Politik, die auf Repression und Abschreckung zielt („Nulltoleranz“-Strategie), bis hin zur Selbstjustiz der „Bürger“ in Bürgerwehren. Die Ursachen von Kriminalität werden nicht angesprochen oder allein bei Individuen und Gruppen gesucht. Migranten und soziale wie politische Randgruppen werden verdächtigt, grundsätzlich zu Kriminalität zu neigen und sich der gesetzlichen Ordnung zu verweigern. Besonders harte Strafen werden bei Sexual- und Tötungsdelikten gefordert, weil diese in der Öffentlichkeit starke negative Emotionen auslösen.

Leistungsorientierte Gesellschaftsordnung, Neoliberalismus bei gleichzeitiger Globalisierungskritik: Populismus fordert niedrigere Steuern, vorrangig für den „Mittelstand“, letztlich aber für „die Wirtschaft“, tritt für Privatisierung von Staatsbetrieben ein und setzt sich für die Belohnung von Leistung vor allem ökonomisch starker Schichten ein. „Leistungsverweigerern“ sollen die staatlichen Zuwendungen entzogen werden. Andererseits befürwortet der Populismus eine Förderung der nationalen Wirtschaft und protektionistische Maßnahmen, um die heimischen Märkte gegen Importe aus Billiglohnländern zu schützen und umgekehrt die eigenen Exporte zu stärken. Damit spricht er den Wohlstandschauvinismus in der Bevölkerung an. Marktradikal treten Populisten dann auf, wenn sie sich damit positiv von der etablierten Politik abgrenzen können. Wo Sozialabbau große Teile der Bevölkerung betreffen würde, können sie sich auch dagegen stellen.

Der politische Apparat der EU gilt als bürokratisch und bürgerfern, seine Vertreter als raffgierige Selbstbediener. Nur als „Festung Europa“, dem Zusammenschluss „verwandter“ Kulturen gegen „fremdartige“ Einwanderer sehen Populisten in der Europäischen Union einen Sinn. Grundsätzlich fordern sie die Rückkehr zum Nationalstaat, zur nationalen Währung, Austritt aus der EU usw.

Islamfeindlichkeit: Während in den Anfangsjahren neben Europa- und Euro-Skepsis allgemeine Ausländerfeindlichkeit den Kern populistischer Programme bildete, entdeckten die westeuropäischen Populisten nach den Anschlägen vom 11.09.2001 den Islam als Feind. Damit konnte der Populismus eine gemeinsame Identifikation sehr verschiedener Menschen herstellen, die durch Krisenprozesse in ihren jeweiligen Milieus bedroht sind. Symbole wie Kopftuch, Minarette oder Gebetsräume in Schulen stehen als öffentlich sichtbare Zeichen der islamischen Kultur im Mittelpunkt der Stimmungsmache.
Der islamfeindliche Kurs herrscht vor allem in den Staaten vor, in denen es nennenswerte muslimische Minderheiten gibt. Wo diese fehlen wie in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, treten andere Bevölkerungsgruppen wie Roma, Juden, Homosexuelle oder ausländische Investoren an ihre Stelle.

Wie schon dieser knappe Überblick verdeutlicht, eignen sich populistische Programme allerlei Versatzstücke bürgerlicher Ideologien an, durchbrechen aber nicht deren hegemoniale Herrschaft über die öffentliche (veröffentlichte) Meinung, sondern spitzen sie jeweils auf einzelne Krisensymptome zu. Humanistisch-demokratischen und damit auch „linken“ Wertsystemen steht der Populismus heute in Europa entgegen und demonstriert ihnen implizit seine Feindschaft: Ignoranz gegen Bildung und Wissen; Vorurteil gegen das Verstehen von Zusammenhängen; Ausgrenzung von Minderheiten gegen deren Integration; Dünkel einer angeblich „höheren“ Kultur gegen die Gleichwertigkeit aller Nationen und Rassen; Wohlstandschauvinismus gegen gerechten Ausgleich; Hass und Wut gegen eigenverantwortliche Solidarität.

Freitag, 8. Januar 2016

Populismus heute: Krisensymptom des Kapitalismus


Ende 2015 startete in diesem Blog eine Folge von Beiträgen, erstellt für die Bezirksgruppe Hörde der Dortmunder Linkspartei, über Wesen und Wirken eines politischen Konzepts, für das sich das Etikett „populistisch“ eingeführt hat.1 Im ersten Beitrag der Folge (22.12.2015) konnte die historisch-materialistische Einordnung den Populismus der Gegenwart nicht bloß – wie etliche Politik- und Sozialwissenschaftler-innen – für eine kurzschlüssige Antwort von „rechts“- oder „links“-außen auf die Krise der Demokratie halten, sondern ergab: Populismus sei immer ein Reflex der herrschenden Klassen auf den Freiheitsdrang der Beherrschten, somit heute Krisensymptom des Kapitalismus und zugleich Zerfallsprodukt der Klassengesellschaft überhaupt. Diese These soll in mehreren Kapiteln weiter ausgeführt und mit Fakten untermauert werden. Das hier anschließende behandelt Entstehung und Ausbreitung der aktuellen populistischen Flut in Europa und Deutschland, weitere Teile folgen zu Wesensmerkmalen und Programmatik sowie zur politischen Wirkung populistischer Bewegungen.

1In der Sozial- und Politikwissenschaft wird der Begriff Populismus nicht in einer allgemein anerkannten Bedeutung verwendet. Eine einheitliche Definition gibt es bislang nicht. In Politik und Medien dient er häufig als Kampfbegriff ("Schlagwort"), um einen bestimmten gegnerischen Politikertypus oder Politikstil abzuwerten. – Hier soll es jedoch genau um die aktuelle politische Bewegung gehen, die sich z.B. in Deutschland um die AfD und PEGIDA sammelt.

Seit die Menschheit sich aufgespalten hat in Oben und Unten, Mächtige und Beherrschte, setzen die Oberklassen allgemein vier Methoden ein, um ihre Macht gegen unten abzusichern: Unterdrückung von Widerstand (legal oder nicht), Kauf von Hilfspersonal (mit Geld oder Privilegien), ideologisches Verkleistern der Wirklichkeit und Spaltung der Gegenkräfte durch Ablenkung und Resignation. Zur Ablenkung gehört auch, dem Volk nach dem Mund zu reden und scheinbar einfache Patentlösungen komplexer Probleme zu versprechen – also das was Politik und Wissenschaft mit dem Begriff „Populismus“ etikettieren. Die parlamentarische Demokratie, wie wir sie heute kennen, funktioniert nicht anders.

In den letzten fünfzig Jahren gab es in Westeuropa im wesentlichen drei Ideologien, auf die sich die Mächtigen ziemlich sicher verlassen konnten: die christlich-obrigkeitlich-konservative, die marktwirtschaftlich-individualistisch-neoliberale und die sozialdemokratisch-reformistische. Vor allem diese dritte hat inzwischen bei den Beherrschten so dramatisch an Glaubwürdigkeit verloren, dass sie zur Machtsicherung zusehends unbrauchbar wird. Abzulesen am schwindenden Einfluss der Gewerkschaften und an Wähler- und Mitgliederverlusten der sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa.

Die Ursache für den Verlust an Bindekraft bürgerlicher Ideologien liegt in der epochalen Krise des kapitalistischen Systems. Bis etwa um 1970 waren die westeuropäischen Demokratien stark sozialreformerisch geprägt. Der Wirtschaftsaufschwung nach dem 2. Weltkrieg hatte Vollbeschäftigung und der Unterschicht einen gewissen Wohlstand ermöglicht; die Sozialsysteme sicherten den Fortschritt in der Lebenshaltung mit relativ geringen staatlichen Transferleistungen. Ab 1966/67 kam es zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, in der Bundesrepublik etwa markiert durch die Notstandsgesetze. 1973 brach das System fester Wechselkurse mit der Goldbindung der Leitwährung US-Dollar zusammen; die erste Ölkrise führte zu Arbeitslosigkeit und Insolvenzen in vielen industriellen Branchen. Die Versuche der Politik, antizyklisch gegenzusteuern, scheiterten. Die Regierungen der kapitalistischen Kernländer wandten sich vom (Neo-) Keynesianismus ab und dem Neoliberalismus zu. Damit ging für die abhängig Beschäftigten, aber auch für das Kleinbürgertum soziale Absicherung verloren. Spätestens mit der Banken- und Staatsschuldenkrise seit 2008 ist die Systemkrise ins allgemeine Massenbewußtsein gedrungen.

Etwa zeitgleich mit diesen Umbrüchen und als Reaktion auf sie kamen gegen Ende der 1970er Jahre zunächst in Dänemark und Norwegen neue Rechtsparteien auf, welche die von der Krise betroffenen Menschen umwarben. In Belgien entstand der Vlaams Blok; in Frankreich machte sich der Front National breit; in Österreich schwenkte die FPÖ auf einen populistischen Kurs; Anfang der 1990er folgte die SVP in der Schweiz. In Italien gründete 1993 der Bauspekulant und Medientycoon Silvio Berlusconi die Partei Forza Italia, mit der er nach nur einem Jahr zum Regierungschef gewählt wurde und dies bis 2011 viermal schaffte, 2009 firmierte er die Partei zu „Il Popolo della Libertà“ (PdL) um. Mit der Lijst Pim Fortuyn erreichte die Welle 2002 auch die Niederlande, die bis dahin als aufgeklärt, weltoffen und tolerant gegolten hatten.
In Deutschland war das populistische Feld lange zersplittert, hier kam es seit den 1990er Jahren zu einigen, teilweise wieder untergegangenen Gründungen, etwa der "Offensive für Deutschland" (ehemaliger FDP-Mitglieder), dem "Bund Freier Bürger" (mit engen Kontakten zu Haiders FPÖ), der Schill-Partei, der Partei "Die Freiheit" (des ehemaligen CDU-Mitglieds Stadtkewitz) , der Pro-Bewegung u.a. Erst 2013 gründete sich die „Alternative für Deutschland“ (AfD), die heute das populistische Feld beherrscht (siehe unten).

Kennzeichnend für diese neuen Parteien war und ist, dass sie keine geschlossene neue Ideologie formulierten (etwa zum Unterschied vom Neofaschismus), sondern sich aus existierenden Ideologien bedienen. Ihr zentraler Begriff „Volk“ ist diffus und erhält erst über Ideale wie Patriotismus, Freiheit oder Gerechtigkeit politischen Inhalt. Ihre Programmatik fokussieren sie meist auf einzelne Krisenerscheinungen, die sie aus dem Zusammenhang reißen und zu Krisen höchster Bedrohlichkeit für das bedrohte „Volk“ stilisieren. Zugleich bieten sie einfache Heilmittel für eine radikale Lösung der jeweiligen Krise an.

Charakteristisch für fast alle populistischen Parteien ist eine starke Führungsfigur, die an eine „Sehnsucht nach dem starken Mann“ appelliert und sich als Vorkämpfer für den Volkswillen gegen die etablierten Parteien und Institutionen inszeniert.

Während zu Anfang Europaskepsis und allgemeine Ausländerfeindlichkeit im Fokus standen, entdeckten die westeuropäischen Populisten nach den Anschlägen vom 11.09.2001 vor allem den Islam als Feind. Damit konnte der Populismus eine gemeinsame Identität sehr verschiedener Menschen schaffen, die durch Transformationsprozesse aus ihren ursprünglichen Milieus herausfallen. Ähnlich in Osteuropa, wo nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten grundlegende Veränderungen der Gesellschaften stattfinden, die die gesamte Bevölkerung treffen.

Erst gegen Mitte der 1990er Jahre setzte sich in der Politik- und Sozialwissenschaft, danach von dort aus in der politischen Öffentlichkeit die Kennzeichnung dieser neuen Strömung als Populismus durch. (Der Begriff selbst ist wesentlich älter, er wurde schon im 19. Jahrhundert auf Kleinbauernbewegungen in USA, Russland und Südosteuropa, im 20. Jahrhundert z.B. auf den Peronismus in Argentinien und den populistischen Diktator Vargas in Brasilien angewandt. Wie im ersten Teil belegt, gab es „populistische“ Politikkonzepte und Führer schon seit der Antike in allen Klassengesellschaften, auch wenn die Historiker sie nicht so genannt haben.)

Im europäischen Vergleich zeigen sich große Unterschiede zwischen den als populistisch eingeschätzten Parteien und Organisationen, bedingt durch die Betonung der nationalen Besonderheiten, die unterschiedliche Geschichte und Machtstellung der europäischen Staaten.

Die Alternative für Deutschland (AfD) entstand im Februar 2013 zunächst als Anti-Euro-Bewegung wirtschaftsliberaler National-Konservativer. Ihre politische Ausrichtung ist inzwischen heftig umstritten und bewegt sich seit dem Ausscheiden des Lucke-Flügels mit hohem Tempo nach rechts außen.
Deutliche Schnittmengen gibt es mit PEGIDA. Bernd Lucke erklärte schon Ende 2014: „Die AfD teilt viele Pegida-Forderungen“. In Düsseldorf wurde der erste DÜGIDA-Aufmarsch von dem lokalen AfD-Aktivisten Alexander Heumann organisiert, der auch Initiator der „Patriotischen Plattform“ der NRW-AfD ist und als Redner beim HOGESA-Aufmarsch rechtsradikaler Hooligans auftrat.
Zu den Neonazis der Neuen Rechten bestehen enge Verbindungen über die Zeitung „Junge Freiheit“, welche die AfD von Beginn an publizistisch unterstützt und sich zu einer informellen Parteizeitung entwickelt hat. Trotz noch bestehender Skrupel in der Parteiführung, mit den Nazi-Strukturen in Verbindung gebracht zu werden, bietet sich die AfD ihnen als parteipolitisches Dach an.