Freitag, 15. Januar 2016

Populismus heute: Krisensymptom des Kapitalismus – Teil 3

Nachdem der zweite Teil unserer Folge über „Populismus heute“ in diesem Blog einen Abriss der Entstehungsgeschichte populistischer Parteien in Europa ab dem Ende der 1970er Jahre gab (08.01.2016), soll es jetzt um die wesentlichen Inhalte populistischer Programme gehen. Vorweg muss daran erinnert werden, dass „Populismus“ keine eigene, in sich geschlossene Ideologie darstellt, sondern ad hoc, sozusagen nach Tagesbedarf passende Elemente bestehender Ideologien aufsaugt. Die Politikwissenschaftlerin Karin Priester (Uni Münster) charakterisiert ihn daher als "bloßes Bündel von Vorstellungen“, deren programmatische Beliebigkeit es nahelegt, „ihn lediglich als eine Strategie des Machterwerbs zu definieren.“ Dennoch finden sich einige gemeinsame Grundzüge in den Politikkonzepten der meisten populistischen Parteien von heute:

Populisten sehen sich als Sprachrohr einer „schweigenden Mehrheit“, wobei sie unterstellen, dass es einen authentischen „Volkswillen“ gebe. Dem „Volk“ werden Tugenden und Werte zugeschrieben, mit denen sich die Bevölkerungsmehrheit identifizieren kann, etwa ein „gesunder Menschenverstand“, Anständigkeit und Ehrlichkeit. Im Zentrum populistischer Programmatik steht somit die Identitätsstiftung einer amorphen Bevölkerungsmehrheit durch Abgrenzung gegenüber Politik und sozialen bzw. ethnischen Minderheiten, die jeweils für Probleme verantwortlich gemacht und als deren Verursacher denunziert werden. Eine Identitätspolitik, in der eine bedrohte Gemeinschaft konstruiert wird. Heinz Strache (FPÖ): "Das Volk hat ein gutes Gespür für Recht und Unrecht. Und dort, wo Unrecht zu Recht wird, da wird Widerstand zur Pflicht!"

Anti-Intellektualismus: Gefühl statt Verstand. Populisten sprechen diffuse Ängste der Bevölkerung vor Modernisierung und Umbrüchen wie der „Globalisierung“ oder der „Demografie“ an und beantworten sie mit monokausalen, kurzschlüssigen oder pseudowissenschatlichen Deutungen und einfachen, einseitigen Parolen. Probleme werden nicht als Ergebnis sozialer Strukturen und wirtschaftlicher Prozesse, sondern als die Schuld bestimmter Gruppen gesehen und personalisiert. So führen sie etwa Kriminalität unter Migranten nicht auf deren soziale Benachteiligung zurück, sondern erklären sie zum immanenten Bestandteil der Kultur der Zuwanderer. Der Parteienforscher Pelinka sieht den Populismus vor allem bei Modernisierungsverlierern erfolgreich.

"Antipolitik": Sie bekämpfen die etablierten Parteien und die politische Klasse, die pauschal als korrupt, machtbesessen und volksfern hingestellt werden. „Wir“ gegen „Die-da-oben“. Indem sie der politischen Elite und Minderheiten die Schuld an Missständen geben, mobilisieren sie vor allem unpolitische, bildungsferne Teile der Bevölkerung, die Politik schlechthin für ein "schmutziges Geschäft" halten. Silvio Berlusconi (Popolo della Libertà in Italien): "Ich bin kein Politiker, ich kümmere mich nicht um Kritik. Ich sage das, was die Leute denken." Dadurch kann der Populismus Anhänger aus allen Gesellschaftsschichten – Bauern, Arbeiter, Selbstständige, Ärzte, Manager, Arbeitslose, Hausfrauen – gewinnen.

Anti-demokratisch: Populisten übernehmen zwar Positionen der extremen Rechten, aber ohne deren offen erklärte Gegnerschaft zu Demokratie und Parlamentarismus. Implizit oder explizit wenden sie sich gegen bestimmte zentrale Elemente der Demokratie wie den Pluralismus, den Minderheitenschutz oder die Religionsfreiheit. Einerseits fordern sie einen starken Staat, z.B. in der Kriminalitätsbekämpfung, stellen aber anderseits das staatliche Gewaltmonopol in Frage, weil nach ihrer Meinung die etablierte Politik den Staat „wehrlos“ mache, oder weil sie die Legitimität der politischen Klasse generell bestreiten, da diese den Volkswillen verfälsche. Im Unterschied zu direkt-demokratischen Verfahren, die auf Kontrolle der Delegierten durch ihre Wähler (dem gebundenen Mandat) beruhen, befürworten sie einen spontanen Voluntarismus in einer Akklamationsdemokratie.

Im allgemeinen verzichten sie auf ein „völkisch“ geprägtes Weltbild; an Stelle des klassischen Rassismus tritt ein kultureller Rassismus, der die nationale Kultur gegen Einwanderer, ethnische Minderheiten und die Europäische Union stellt: Kulturelle Vielfalt wird als „Multikulti“ diffamiert und mit "Überfremdung" gleichgesetzt. Behauptet wird ein Gegensatz zwischen Demokratie, Wohlstand und Sicherheit als „abendländischer“ bzw. nationaler Kultur auf der einen und der – minderwertigen – Kultur der „Fremdartigen“ auf der anderen Seite. 

Repressiv: Sie propagieren eine Law-and-Order-Politik, die auf Repression und Abschreckung zielt („Nulltoleranz“-Strategie), bis hin zur Selbstjustiz der „Bürger“ in Bürgerwehren. Die Ursachen von Kriminalität werden nicht angesprochen oder allein bei Individuen und Gruppen gesucht. Migranten und soziale wie politische Randgruppen werden verdächtigt, grundsätzlich zu Kriminalität zu neigen und sich der gesetzlichen Ordnung zu verweigern. Besonders harte Strafen werden bei Sexual- und Tötungsdelikten gefordert, weil diese in der Öffentlichkeit starke negative Emotionen auslösen.

Leistungsorientierte Gesellschaftsordnung, Neoliberalismus bei gleichzeitiger Globalisierungskritik: Populismus fordert niedrigere Steuern, vorrangig für den „Mittelstand“, letztlich aber für „die Wirtschaft“, tritt für Privatisierung von Staatsbetrieben ein und setzt sich für die Belohnung von Leistung vor allem ökonomisch starker Schichten ein. „Leistungsverweigerern“ sollen die staatlichen Zuwendungen entzogen werden. Andererseits befürwortet der Populismus eine Förderung der nationalen Wirtschaft und protektionistische Maßnahmen, um die heimischen Märkte gegen Importe aus Billiglohnländern zu schützen und umgekehrt die eigenen Exporte zu stärken. Damit spricht er den Wohlstandschauvinismus in der Bevölkerung an. Marktradikal treten Populisten dann auf, wenn sie sich damit positiv von der etablierten Politik abgrenzen können. Wo Sozialabbau große Teile der Bevölkerung betreffen würde, können sie sich auch dagegen stellen.

Der politische Apparat der EU gilt als bürokratisch und bürgerfern, seine Vertreter als raffgierige Selbstbediener. Nur als „Festung Europa“, dem Zusammenschluss „verwandter“ Kulturen gegen „fremdartige“ Einwanderer sehen Populisten in der Europäischen Union einen Sinn. Grundsätzlich fordern sie die Rückkehr zum Nationalstaat, zur nationalen Währung, Austritt aus der EU usw.

Islamfeindlichkeit: Während in den Anfangsjahren neben Europa- und Euro-Skepsis allgemeine Ausländerfeindlichkeit den Kern populistischer Programme bildete, entdeckten die westeuropäischen Populisten nach den Anschlägen vom 11.09.2001 den Islam als Feind. Damit konnte der Populismus eine gemeinsame Identifikation sehr verschiedener Menschen herstellen, die durch Krisenprozesse in ihren jeweiligen Milieus bedroht sind. Symbole wie Kopftuch, Minarette oder Gebetsräume in Schulen stehen als öffentlich sichtbare Zeichen der islamischen Kultur im Mittelpunkt der Stimmungsmache.
Der islamfeindliche Kurs herrscht vor allem in den Staaten vor, in denen es nennenswerte muslimische Minderheiten gibt. Wo diese fehlen wie in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, treten andere Bevölkerungsgruppen wie Roma, Juden, Homosexuelle oder ausländische Investoren an ihre Stelle.

Wie schon dieser knappe Überblick verdeutlicht, eignen sich populistische Programme allerlei Versatzstücke bürgerlicher Ideologien an, durchbrechen aber nicht deren hegemoniale Herrschaft über die öffentliche (veröffentlichte) Meinung, sondern spitzen sie jeweils auf einzelne Krisensymptome zu. Humanistisch-demokratischen und damit auch „linken“ Wertsystemen steht der Populismus heute in Europa entgegen und demonstriert ihnen implizit seine Feindschaft: Ignoranz gegen Bildung und Wissen; Vorurteil gegen das Verstehen von Zusammenhängen; Ausgrenzung von Minderheiten gegen deren Integration; Dünkel einer angeblich „höheren“ Kultur gegen die Gleichwertigkeit aller Nationen und Rassen; Wohlstandschauvinismus gegen gerechten Ausgleich; Hass und Wut gegen eigenverantwortliche Solidarität.

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