1. Zur Lage und den
Aufgaben der Linken
Die Lage der SPD im Jahr vor der nächsten Bundestagswahl bleibt
auch nach einem Parteikonvent, der eigentlich den Befreiungsschlag leisten
sollte: verzweifelt. Stefan Hebel schrieb in der Frankfurter Rundschau: „Jetzt
hat der Konvent ein schönes, in mancher Hinsicht „linkes“ Papier verabschiedet
– bis hin zu vorsichtigen Überlegungen über eine Vermögensteuer. Und Gabriel
braucht nur noch eine weitere Idee: Er muss den Leuten erklären, warum sie es
diesmal glauben sollen.“
Mit dem uralten Trick hofft SPD-„Spitzenkandidat“ (?)
Gabriel, das Wahlvolk noch einmal hinters Licht zu führen. Doch wenn auch
parteiintern sich die Zweifel mehren, ob der Schröder-Mann, Agenda-Befürworter,
nach acht lähmenden GroKo-Jahren, das Betrugsmanöver eines angeblichen
Linksschwenks der SPD glaubhaft verkörpern kann – alle ducken sich weg, niemand
meldet sich freiwillig als Konkursverwalter.
Mit dem Abrutschen der SPD-Umfragewerte unter 20 % (minus X)
und dem Vordringen der populistischen AfD gerät das gesamte altbewährte
Bäumchen-wechsle-dich-Spiel des Parlamentarismus durcheinander.
Dabei geht es um weit mehr als das übliche Pöstchengerangel.
Der Kapitalismus hat Produktivkräfte hervorgebracht, mit denen es erstmals in
der Geschichte möglich (!) wird, die materiellen und kulturellen Bedürfnisse
aller Erdenbewohner zu befriedigen. Den Weg dahin, zu einer solidarischen,
gemeinwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung aber versperren die Eigentums- und
Herrschaftsverhältnisse. Zugleich folgt die Menschheit einer Entwicklungslogik,
die alles zivilisierte Leben auf der Erde mit dem Untergang bedroht. So steht sie
vor der immensen Herausforderung, binnen historisch kurzer Zeit einen Ausweg
aus diesem Widerspruch zu finden: "Sozialismus oder Barbarei" lautet
die historische Weichenstellung des 21. Jahrhunderts.
Mit der neoliberalen Offensive verschärft sich der Gegensatz
zwischen Kapital und Arbeit weiter. Und zwar jetzt (wieder) unter Bedingungen
einer allgemeinen sozialen Entwurzelung, des Schrumpfens der
Industriearbeiterschaft, der Zersplitterung der Arbeitsverhältnisse, der
Ausgrenzung von Millionen aus der gesellschaftlichen Produktion, sozialer
Spaltung und eines unverkennbaren Defizits an politischem Klassenbewusstsein der
unteren Klassen.
Zwar nehmen spontane Proteste und außerparlamentarische
Initiativen gegen den Abbau sozialer Sicherungssysteme, Privatisierung
staatlicher und kommunaler Versorgungspflichten usw. europaweit und auch in
Deutschland wieder zu, aber von einer organisierten und vereinigten Gegenmacht
kann keine Rede sein. Spontane Aktionen gegen das Kapital sind unverzichtbar
notwendig. Aber ohne organisierende, einigende Anstrengung werden sie die
Kapitaloffensive nicht stoppen und den Epochenwiderspruch nicht auflösen.
In dieser Lage bestimmt sich linke Politik danach, ob und
was sie zur Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse gegen die
Barbarei und für Sozialismus beiträgt.
Eine wichtige Rolle spielt dabei natürlich die Staatsmacht,
und in Bezug auf sie kommt der parteilich organisierten Linken eine
Schlüsselstellung zu. Illusionär ist allerdings die Ansicht, Parlamente und Regierungen
bildeten sozusagen die Arena, in der die Klassen gegeneinander antreten. So
eine Sichtweise degradiert „das Volk“ vom Souverän zum passiven Zuschauer der Konkurrenzkämpfe
zwischen pressure-groups. Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu verändern
ist keine Willens-, Fleiß- oder Charakterfrage "aufrechter" linker
Parlamentarier und Regierungspolitiker. Solche werden sich auch nur heranbilden,
indem die Gesellschaft selbst wirksame Gegenmacht der
"außerparlamentarischen" Bewegung(en) entwickelt.
Folglich besteht die strategische Hauptaufgabe der Linken
heute darin, die Organisierung der gesellschaftlichen Gegenmacht zu befördern.
Dem hat die Arbeit sowohl innerhalb wie außerhalb des Staatsapparats zu dienen.
2. Mitregieren unter
welchen Bedingungen?
Regieren unter kapitalistischen Bedingungen kann für die
Linke kein Selbstzweck sein. Zwar eröffnet die Teilnahme an
Regierungsverantwortung immer auch reale Möglichkeiten, die Lebens- und
Arbeitsbedingungen der Vielen zu verteidigen und zu verbessern. Zugleich birgt sie
aber die Gefahr, die Kräfte im Tages"geschäft" mit den Herrschenden
zu binden, zu korrumpieren und von den eigentlich drängenden gesellschaftlichen
Herausforderungen abzulenken. Die kleinen Alltagskämpfe um Reformen sind
unerlässlich zur Sammlung, Festigung und Schulung der antikapitalistischen
Kräfte, aber die entscheidenden Veränderungen der Gesellschaft werden sich
nicht als Summe aus kleinen Reformschritten ergeben. Linke
Regierungsbeteiligung muss also gründlich auf Nutzen und "Kosten"
abgewogen werden.
Die sehr richtige Erkenntnis, die häufig als Generaleinwand
gegen linke Regierungsbeteiligung gestellt wird: bürgerliche Regierungen seien nie
mehr als ein ausführender Ausschuss der herrschenden Klasse(n) – als Einwand
läuft sie ins Leere, wenn die Linke an der Regierung sich ihrerseits als
Exekutivorgan des Widerstands–Aufstands der beherrschten Klassen begreift,
sozusagen als trojanisches Pferd in der feindlichen Festung. Übrig bleibt dann nur
die Frage, ob die gesellschaftliche Gegenmacht von unten stark genug ist, den
Mächtigen auch mithilfe deren eigener Machtorgane Zugeständnisse abzuringen.
Diese Frage lässt sich nur jeweils konkret beantworten.
In der europäischen Geschichte haben sich drei typische
Konstellationen oft wiederholt, in denen linke oder sich links nennende
Parteien die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen erwogen oder auch vollzogen
haben.
Die klassische Situation, auf welche die revolutionären
Strategien der Arbeiterbewegung immer besondere Aufmerksamkeit richteten, tritt
im Laufe einer allgemeinen Krise und Zuspitzung des Klassenkampfs ein, wenn
fortschreitende Lähmung, Zerrüttung und Handlungsunfähigkeit der
kapitalistischen Staatsmacht eine Art "neuer Demokratie" oder
"Doppelherrschaft" ermöglichen, ohne dass damit schon die ökonomischen
Grundlagen des Kapitalismus aufgehoben würden. Von einer solchen Situation sind
wir heute selbstredend weit entfernt.
Eine andere klassische Situation linker
Regierungsbeteiligung ergab sich in vielen europäischen Ländern, als es galt,
die unmittelbar drohende Errichtung einer faschistischen Diktatur zu verhindern
("Volksfrontregierung") oder nach dem Sieg über den Faschismus
gemeinsam mit allen demokratischen Kräften eine "antifaschistische"
Neuordnung zu schaffen. Auch das steht heute in Europa (noch?) nirgends wieder
auf der Agenda, jedenfalls ist es auf absehbare Zeit keine ernsthaft diskutable
Option der deutschen Linken.
Der dritte, weitaus häufigste Fall ist der Eintritt einer
reformistisch gewendeten Arbeiterpartei in eine bürgerliche
Koalitionsregierung, sei es in einer Krisensituation oder auch nicht. Abgesehen
davon, ob die heutige SPD überhaupt als "linke" Partei gelten kann,
hat sie sich den diesbezüglichen Sündenfall nicht erst 1966 mit der "großen
Koalition" unter dem CDU-Kanzler und Ex-Nazi Kiesinger geleistet, sondern
schon 1918 mit dem Eintritt der SPD-Führer Scheidemann und Bauer ins
kaiserliche Kriegskabinett des Prinzen Max von Baden zur Niederschlagung der
Novemberrevolution.
Seither gilt vielen Marxist*innen generell die Beteiligung
an bürgerlichen Regierungen als Prüfstein darauf, ob eine Partei noch
"links" oder schon "reformistisch" bzw.
"revisionistisch" sei.
Mir scheint dies ein unzulässig vereinfachtes
Pauschalurteil, das wohl auch Marx und Engels heute nicht akzeptieren würden.
Wie auch immer, wurde und wird die Frage einer möglichen
Regierungskoalition mit SPD und Grünen spätestens seit 2005 zu jeder
Bundestagswahl erneut innerhalb der damaligen PDS wie auch heute der LINKEN
"unversöhnlich" kontrovers diskutiert. Um schematische Kurzschlüsse
zu vermeiden, müssten nach meiner Ansicht die folgenden Argumente in die
Abwägung einbezogen werden.
3. Ein
gesellschaftlich getragenes Aktionsprogramm als „rote Liste“ in einer
Koalitionsregierung
Wenn, wie im 1.Teil begründet, die aktuelle Hauptaufgabe
linker Politik heute darin besteht, die Organisierung außerparlamentarischer
Gegenmacht zu stärken, dann ist zu fragen, ob dazu eine Beteiligung der LINKEN
an einer Koalitionsregierung mit SPD und Grünen besonders wirksam beitragen würde
oder nicht. Das ist m.E. nicht von vorn herein auszuschließen, sondern hängt ab
von der Zwangslage, in der die beiden nicht-linken Parteien sich zu so einer
Koalition bereit fänden. Denn nur wenn diese unter dem Druck der gesellschaftlichen
Veränderungen für sich keinen anderen Ausweg sehen, werden sie auf so eine Wippe
steigen. Der Nutzen für die Gegenmacht hängt also davon ab, ob die LINKE eine
"rote Liste" unverzichtbarer Minimalforderungen der
außerparlamentarischen Opposition ins Regierungsprogramm diktieren kann und
diese Programmpunkte in aller Öffentlichkeit zum nachprüfbaren Maßstab ihrer
Regierungspolitik macht. – Das schließt übrigens auch die Klarstellung ein, im
Streit um die Grundlinien diese Regierung notfalls platzen zu lassen (Beispiel:
Linke Tolerierung der NRW-Landesregierung Kraft-1).
Regierungsbeteiligung der LINKEN auf Bundesebene könnte auch
bewirken - bei klaren "roten Linien" - dem Versprechen Willy Brandt's
von 1972 auf "mehr Demokratie" näher zu kommen: nicht im abstrakt
klassenneutralen Sinn eines Aushandelns widerstreitender "Interessen"
(wie die herrschende Lehre Demokratie gerne missdeutet), sondern im Sinn der
basisdemokratischen Mobilisierung und Selbstorganisation „des Volkes“ – sprich:
außerparlamentarischer Bewegungen zur Erfüllung vorrangiger sozialer
Bedürfnisse.
Eine solche Taktik setzt allerdings den festen Willen der
LINKEN selbst dazu voraus. Denn nur wenn die LINKE sich von den anderen
Parteien grundlegend durch Berechenbarkeit, Prinzipientreue und Verlässlichkeit
unterscheidet, wird sie den gesellschaftlichen Rückhalt finden, den so eine
Taktik erfordert. Der feste Wille dazu ist in der Partei heute (noch) nicht
mehrheitsfähig, siehe die Landesregierungen in Thüringen und vormals Berlin.
Die demokratische Willensbildung muss also erst einmal bei der LINKEN selbst vorangehen.
Um den Willen und die Fähigkeit der LINKEN zur Koalition mit
SPD und Grünen auf den Prüfstand zu stellen, wäre ein erster Schritt, mit
verbündeten Massenorganisationen gemeinsam eine „rote Liste" unverzichtbarer
Forderungen als gemeinsames Aktionsprogramm aufzustellen und dabei zugleich zu prüfen,
wie entschlossen die Bündnispartner um seine Verwirklichung kämpfen.
Wer das für den richtigen Weg hält, muss jetzt damit
anfangen, um zu Beginn des Wahljahres die Ergebnisse auswerten und darauf eine
Wahlkampagne aufbauen zu können.