Mittwoch, 8. Juni 2016

Die Linke in Nöten. Ausweg "Rot-rosa-grün"? Aus aktuellem Anlass ein Ausflug ins Wahljahr


1. Zur Lage und den Aufgaben der Linken

Die Lage der SPD im Jahr vor der nächsten Bundestagswahl bleibt auch nach einem Parteikonvent, der eigentlich den Befreiungsschlag leisten sollte: verzweifelt. Stefan Hebel schrieb in der Frankfurter Rundschau: „Jetzt hat der Konvent ein schönes, in mancher Hinsicht „linkes“ Papier verabschiedet – bis hin zu vorsichtigen Überlegungen über eine Vermögensteuer. Und Gabriel braucht nur noch eine weitere Idee: Er muss den Leuten erklären, warum sie es diesmal glauben sollen.“

Mit dem uralten Trick hofft SPD-„Spitzenkandidat“ (?) Gabriel, das Wahlvolk noch einmal hinters Licht zu führen. Doch wenn auch parteiintern sich die Zweifel mehren, ob der Schröder-Mann, Agenda-Befürworter, nach acht lähmenden GroKo-Jahren, das Betrugsmanöver eines angeblichen Linksschwenks der SPD glaubhaft verkörpern kann – alle ducken sich weg, niemand meldet sich freiwillig als Konkursverwalter.

Mit dem Abrutschen der SPD-Umfragewerte unter 20 % (minus X) und dem Vordringen der populistischen AfD gerät das gesamte altbewährte Bäumchen-wechsle-dich-Spiel des Parlamentarismus durcheinander.

Dabei geht es um weit mehr als das übliche Pöstchengerangel. Der Kapitalismus hat Produktivkräfte hervorgebracht, mit denen es erstmals in der Geschichte möglich (!) wird, die materiellen und kulturellen Bedürfnisse aller Erdenbewohner zu befriedigen. Den Weg dahin, zu einer solidarischen, gemeinwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung aber versperren die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. Zugleich folgt die Menschheit einer Entwicklungslogik, die alles zivilisierte Leben auf der Erde mit dem Untergang bedroht. So steht sie vor der immensen Herausforderung, binnen historisch kurzer Zeit einen Ausweg aus diesem Widerspruch zu finden: "Sozialismus oder Barbarei" lautet die historische Weichenstellung des 21. Jahrhunderts.

Mit der neoliberalen Offensive verschärft sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit weiter. Und zwar jetzt (wieder) unter Bedingungen einer allgemeinen sozialen Entwurzelung, des Schrumpfens der Industriearbeiterschaft, der Zersplitterung der Arbeitsverhältnisse, der Ausgrenzung von Millionen aus der gesellschaftlichen Produktion, sozialer Spaltung und eines unverkennbaren Defizits an politischem Klassenbewusstsein der unteren Klassen.

Zwar nehmen spontane Proteste und außerparlamentarische Initiativen gegen den Abbau sozialer Sicherungssysteme, Privatisierung staatlicher und kommunaler Versorgungspflichten usw. europaweit und auch in Deutschland wieder zu, aber von einer organisierten und vereinigten Gegenmacht kann keine Rede sein. Spontane Aktionen gegen das Kapital sind unverzichtbar notwendig. Aber ohne organisierende, einigende Anstrengung werden sie die Kapitaloffensive nicht stoppen und den Epochenwiderspruch nicht auflösen.

In dieser Lage bestimmt sich linke Politik danach, ob und was sie zur Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse gegen die Barbarei und für Sozialismus beiträgt.

Eine wichtige Rolle spielt dabei natürlich die Staatsmacht, und in Bezug auf sie kommt der parteilich organisierten Linken eine Schlüsselstellung zu. Illusionär ist allerdings die Ansicht, Parlamente und Regierungen bildeten sozusagen die Arena, in der die Klassen gegeneinander antreten. So eine Sichtweise degradiert „das Volk“ vom Souverän zum passiven Zuschauer der Konkurrenzkämpfe zwischen pressure-groups. Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu verändern ist keine Willens-, Fleiß- oder Charakterfrage "aufrechter" linker Parlamentarier und Regierungspolitiker. Solche werden sich auch nur heranbilden, indem die Gesellschaft selbst wirksame Gegenmacht der "außerparlamentarischen" Bewegung(en) entwickelt.

Folglich besteht die strategische Hauptaufgabe der Linken heute darin, die Organisierung der gesellschaftlichen Gegenmacht zu befördern. Dem hat die Arbeit sowohl innerhalb wie außerhalb des Staatsapparats zu dienen.

2. Mitregieren unter welchen Bedingungen?

Regieren unter kapitalistischen Bedingungen kann für die Linke kein Selbstzweck sein. Zwar eröffnet die Teilnahme an Regierungsverantwortung immer auch reale Möglichkeiten, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Vielen zu verteidigen und zu verbessern. Zugleich birgt sie aber die Gefahr, die Kräfte im Tages"geschäft" mit den Herrschenden zu binden, zu korrumpieren und von den eigentlich drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen abzulenken. Die kleinen Alltagskämpfe um Reformen sind unerlässlich zur Sammlung, Festigung und Schulung der antikapitalistischen Kräfte, aber die entscheidenden Veränderungen der Gesellschaft werden sich nicht als Summe aus kleinen Reformschritten ergeben. Linke Regierungsbeteiligung muss also gründlich auf Nutzen und "Kosten" abgewogen werden.

Die sehr richtige Erkenntnis, die häufig als Generaleinwand gegen linke Regierungsbeteiligung gestellt wird: bürgerliche Regierungen seien nie mehr als ein ausführender Ausschuss der herrschenden Klasse(n) – als Einwand läuft sie ins Leere, wenn die Linke an der Regierung sich ihrerseits als Exekutivorgan des Widerstands–Aufstands der beherrschten Klassen begreift, sozusagen als trojanisches Pferd in der feindlichen Festung. Übrig bleibt dann nur die Frage, ob die gesellschaftliche Gegenmacht von unten stark genug ist, den Mächtigen auch mithilfe deren eigener Machtorgane Zugeständnisse abzuringen. Diese Frage lässt sich nur jeweils konkret beantworten.

In der europäischen Geschichte haben sich drei typische Konstellationen oft wiederholt, in denen linke oder sich links nennende Parteien die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen erwogen oder auch vollzogen haben.
Die klassische Situation, auf welche die revolutionären Strategien der Arbeiterbewegung immer besondere Aufmerksamkeit richteten, tritt im Laufe einer allgemeinen Krise und Zuspitzung des Klassenkampfs ein, wenn fortschreitende Lähmung, Zerrüttung und Handlungsunfähigkeit der kapitalistischen Staatsmacht eine Art "neuer Demokratie" oder "Doppelherrschaft" ermöglichen, ohne dass damit schon die ökonomischen Grundlagen des Kapitalismus aufgehoben würden. Von einer solchen Situation sind wir heute selbstredend weit entfernt.
Eine andere klassische Situation linker Regierungsbeteiligung ergab sich in vielen europäischen Ländern, als es galt, die unmittelbar drohende Errichtung einer faschistischen Diktatur zu verhindern ("Volksfrontregierung") oder nach dem Sieg über den Faschismus gemeinsam mit allen demokratischen Kräften eine "antifaschistische" Neuordnung zu schaffen. Auch das steht heute in Europa (noch?) nirgends wieder auf der Agenda, jedenfalls ist es auf absehbare Zeit keine ernsthaft diskutable Option der deutschen Linken.
Der dritte, weitaus häufigste Fall ist der Eintritt einer reformistisch gewendeten Arbeiterpartei in eine bürgerliche Koalitionsregierung, sei es in einer Krisensituation oder auch nicht. Abgesehen davon, ob die heutige SPD überhaupt als "linke" Partei gelten kann, hat sie sich den diesbezüglichen Sündenfall nicht erst 1966 mit der "großen Koalition" unter dem CDU-Kanzler und Ex-Nazi Kiesinger geleistet, sondern schon 1918 mit dem Eintritt der SPD-Führer Scheidemann und Bauer ins kaiserliche Kriegskabinett des Prinzen Max von Baden zur Niederschlagung der Novemberrevolution.
Seither gilt vielen Marxist*innen generell die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen als Prüfstein darauf, ob eine Partei noch "links" oder schon "reformistisch" bzw. "revisionistisch" sei.

Mir scheint dies ein unzulässig vereinfachtes Pauschalurteil, das wohl auch Marx und Engels heute nicht akzeptieren würden.

Wie auch immer, wurde und wird die Frage einer möglichen Regierungskoalition mit SPD und Grünen spätestens seit 2005 zu jeder Bundestagswahl erneut innerhalb der damaligen PDS wie auch heute der LINKEN "unversöhnlich" kontrovers diskutiert. Um schematische Kurzschlüsse zu vermeiden, müssten nach meiner Ansicht die folgenden Argumente in die Abwägung einbezogen werden.

3. Ein gesellschaftlich getragenes Aktionsprogramm als „rote Liste“ in einer Koalitionsregierung

Wenn, wie im 1.Teil begründet, die aktuelle Hauptaufgabe linker Politik heute darin besteht, die Organisierung außerparlamentarischer Gegenmacht zu stärken, dann ist zu fragen, ob dazu eine Beteiligung der LINKEN an einer Koalitionsregierung mit SPD und Grünen besonders wirksam beitragen würde oder nicht. Das ist m.E. nicht von vorn herein auszuschließen, sondern hängt ab von der Zwangslage, in der die beiden nicht-linken Parteien sich zu so einer Koalition bereit fänden. Denn nur wenn diese unter dem Druck der gesellschaftlichen Veränderungen für sich keinen anderen Ausweg sehen, werden sie auf so eine Wippe steigen. Der Nutzen für die Gegenmacht hängt also davon ab, ob die LINKE eine "rote Liste" unverzichtbarer Minimalforderungen der außerparlamentarischen Opposition ins Regierungsprogramm diktieren kann und diese Programmpunkte in aller Öffentlichkeit zum nachprüfbaren Maßstab ihrer Regierungspolitik macht. – Das schließt übrigens auch die Klarstellung ein, im Streit um die Grundlinien diese Regierung notfalls platzen zu lassen (Beispiel: Linke Tolerierung der NRW-Landesregierung Kraft-1).

Regierungsbeteiligung der LINKEN auf Bundesebene könnte auch bewirken - bei klaren "roten Linien" - dem Versprechen Willy Brandt's von 1972 auf "mehr Demokratie" näher zu kommen: nicht im abstrakt klassenneutralen Sinn eines Aushandelns widerstreitender "Interessen" (wie die herrschende Lehre Demokratie gerne missdeutet), sondern im Sinn der basisdemokratischen Mobilisierung und Selbstorganisation „des Volkes“ – sprich: außerparlamentarischer Bewegungen zur Erfüllung vorrangiger sozialer Bedürfnisse.

Eine solche Taktik setzt allerdings den festen Willen der LINKEN selbst dazu voraus. Denn nur wenn die LINKE sich von den anderen Parteien grundlegend durch Berechenbarkeit, Prinzipientreue und Verlässlichkeit unterscheidet, wird sie den gesellschaftlichen Rückhalt finden, den so eine Taktik erfordert. Der feste Wille dazu ist in der Partei heute (noch) nicht mehrheitsfähig, siehe die Landesregierungen in Thüringen und vormals Berlin. Die demokratische Willensbildung muss also erst einmal bei der LINKEN selbst vorangehen.

Um den Willen und die Fähigkeit der LINKEN zur Koalition mit SPD und Grünen auf den Prüfstand zu stellen, wäre ein erster Schritt, mit verbündeten Massenorganisationen gemeinsam eine „rote Liste" unverzichtbarer Forderungen als gemeinsames Aktionsprogramm aufzustellen und dabei zugleich zu prüfen, wie entschlossen die Bündnispartner um seine Verwirklichung kämpfen.

Wer das für den richtigen Weg hält, muss jetzt damit anfangen, um zu Beginn des Wahljahres die Ergebnisse auswerten und darauf eine Wahlkampagne aufbauen zu können.

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