Dienstag, 23. August 2016

Was Merkel nicht schafft und „wir“ nur ganz anders schaffen können


Ende Juli wurde Sahra Wagenknecht, Co-Vorsitzende der LINKEN-Bundestagsfraktion, von Partei“freunden“ öffentlich an den Pranger gestellt – wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde! – weil sie sich unterstanden hatte, im Zusammenhang mit den islamistisch motivierten Terroranschlägen in Würzburg und Ansbach auf die „erheblichen Probleme“ hinzuweisen, über die das Kanzlerinnenwort „Wir schaffen das“ leichtfertig hinweg redet. Sahras Fraktionskollege Jan van Aken hielt ihre Mahnung für eine Merkel-Kritik „von rechts“ und forderte indirekt ihre Ablösung von der Fraktionsspitze, andere warfen ihr vor, sie stelle damit alle Flüchtlinge unter Generalverdacht und bediene AfD-Hetze.

Ich stellte mich damals uneingeschränkt auf Sahras Seite. Mit einigem zeitlichen Abstand halte ich den Aufschrei der Empörung über ihren Warnhinweis heute immer noch zum Teil für scheinheilig, mindestens aber für naiv bis ignorant. Die personalisierte Kampagne „Sahra es reicht“ hinterließ bei mir den Eindruck, dass wichtige Teile der LINKEN den Ernst der Lage, in die der „Westen“ durch die Ausplünderung und Zerstörung des globalen Südens hineingestolpert ist, bewußt ausblenden, um sich kurzsichtig auf aktuelle innenpolitische Tagesscharmützel zu konzentrieren, statt eine Politik für das 21. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, wie es sich für Linke gehören würde.

Damit nicht auch mich sogleich der empörte Aufschrei trifft, schicke ich voraus: Selbstverständlich ist jeder verallgemeinernde Schluss von einzelnen Individuen auf „die“ Flüchtlinge, „die“ Muslime usw. absolut abwegig und unzulässig. Es sind ja diese Verallgemeinerungen, aus denen sich die populistische und faschistische Hetze speist. Ihnen muss die Linke selbstverständlich energisch und unmissverständlich entgegen treten.

Umgekehrt wird es, von ein paar Wirrköpfen abgesehen, wohl kaum Linke geben, die die Gefahr abstreiten, dass unter den Flüchtlingsmassen versteckt auch einzelne Fanatiker eingeschleust werden, um hier Verbrechen zu begehen, oder die Gefahr, dass Einzelne in den Flüchtlingsunterkünften islamistischer Agitation auf den Leim gehen. Es darf daher nicht als Rassismus oder Populismus verteufelt werden, wenn Linke eine genaue – aber menschenrechtskonforme! – Kontrolle an den Grenzen und in den Flüchtlingsunterkünften fordern. Allein das stellt den Staat und auch uns Linke vor „erhebliche Probleme“.

Doch über diese tagespolitische Ebene hinaus sind die Flüchtlingsströme von heute nur Vorboten der eigentlichen Probleme des 21. Jahrhunderts. Probleme, die vor allem von den reichen Mächten des Westens erzeugt wurden und die so, wie diese Mächte heute in der Welt agieren, mit Marktdominanz, Rohstoffkriegen, globalen Rechtsbrüchen und Regime-change-Interventionen von Tag zu Tag unlösbarer werden.

Schon zur Jahrtausendwende hatte der englische Geschichtswissenschaftler Eric Hobsbawm dem neuen Jahrhundert drei zentrale Probleme vorhergesagt:
-       Wenn die explosionsartige Vermehrung der Erdbevölkerung (1950: 3 Milliarden Menschen – 2000: 6 Milliarden – 2030 nach UNO-Prognose: 10 Milliarden – …?) bei exponentiell zunehmender Ungleichheit der Lebensbedingungen innerhalb und zwischen den reichen und armen Weltregionen sich fortsetzt, wird sie einen Wanderungsdruck auf die reichen Länder erzeugen, der mit demokratischen und marktwirtschaftlichen Mitteln nicht mehr beherrschbar sein wird.
-       Hinzu kommt, dass Umweltzerstörung und Klimawandel ganze Landstriche unbewohnbar machen und ganze Völkerschaften aus ihren angestammten Gebieten vertreiben.
-       Noch verschärft wird der Druck auf die reichen Länder durch die daraus unvermeidlich folgenden gewaltsamen Konflikte um Ressourcen und Lebensräume.

In dieser – überwiegend vom Westen selbst verschuldeten – Zwangslage sieht Hobsbawm die reichen Staaten vor die Alternative gestellt, entweder ihre Grenzen radikal abzudichten oder (und) ausgewählte Zuwanderergruppen z.B. als billige Arbeitskräfte, auf Zeit und nur mit eingeschränkten Bürgerrechten aufzunehmen, sozusagen als Parias des Westens, was einem Apartheidsregime gleich kommt. Beide Wege würden den zivilisatorischen Grundkonsens in und zwischen den westlichen Gesellschaften zerreißen.

Wie Hobsbawm klar erkannte, können wir dieser Entwicklung nicht entgehen, solange wir an unserem herkömmlichen Politik- und Wirtschaftssystem festhalten – im Gegenteil verursacht und beschleunigt es diese Entwicklung. Hobsbawm hielt – vor bald schon zwanzig Jahren – eines für „völlig unbestreitbar“: Ein Ausgleich der Ungleichgewichte zwischen reichen und armen Ländern „wäre unvereinbar mit einer Weltwirtschaft, die auf dem unbegrenzten Profitstreben von Wirtschaftsunternehmen beruht, welche ja per definitionem diesem Ziel verpflichtet sind und die darum auf einem freien Weltmarkt konkurrieren… Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, kann der Kapitalismus (…) keine haben.“ (Das Zeitalter der Extreme, S.703) An anderer Stelle schrieb er (2009): „Soweit ich weiß, gibt es keine Gesellschaft ohne den Begriff der Ungerechtigkeit. Und daher soll es auch keine geben, in der man sich nicht mehr gegen sie auflehnt.“

Es kann Linke nicht verwundern, dass die Bundeskanzlerin über die beschriebenen Folgen (auch) ihrer Politik leichtfertig hinweg redet. In diesem Licht besehen, war Sahra’s Einspruch dagegen nicht nur vollauf gerechtfertigt, sondern müsste allen Linken zu denken geben: Wir stehen tatsächlich vor „erheblichen Problemen“, und die können wir nur gegen Merkel u.Co lösen.

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