Ende Juli wurde Sahra Wagenknecht, Co-Vorsitzende der LINKEN-Bundestagsfraktion, von Partei“freunden“ öffentlich an den Pranger gestellt – wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde! – weil sie sich unterstanden hatte, im Zusammenhang mit den islamistisch motivierten Terroranschlägen in Würzburg und Ansbach auf die „erheblichen Probleme“ hinzuweisen, über die das Kanzlerinnenwort „Wir schaffen das“ leichtfertig hinweg redet. Sahras Fraktionskollege Jan van Aken hielt ihre Mahnung für eine Merkel-Kritik „von rechts“ und forderte indirekt ihre Ablösung von der Fraktionsspitze, andere warfen ihr vor, sie stelle damit alle Flüchtlinge unter Generalverdacht und bediene AfD-Hetze.
Ich stellte mich damals uneingeschränkt auf Sahras Seite.
Mit einigem zeitlichen Abstand halte ich den Aufschrei der Empörung über ihren
Warnhinweis heute immer noch zum Teil für scheinheilig, mindestens aber für
naiv bis ignorant. Die personalisierte Kampagne „Sahra es reicht“ hinterließ
bei mir den Eindruck, dass wichtige Teile der LINKEN den Ernst der Lage, in die der „Westen“ durch die Ausplünderung und
Zerstörung des globalen Südens hineingestolpert ist, bewußt ausblenden, um sich
kurzsichtig auf aktuelle innenpolitische Tagesscharmützel zu konzentrieren,
statt eine Politik für das 21. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, wie es sich
für Linke gehören würde.
Damit nicht auch mich sogleich der empörte Aufschrei trifft,
schicke ich voraus: Selbstverständlich ist jeder verallgemeinernde Schluss von
einzelnen Individuen auf „die“ Flüchtlinge, „die“ Muslime usw. absolut abwegig
und unzulässig. Es sind ja diese Verallgemeinerungen, aus denen sich die
populistische und faschistische Hetze speist. Ihnen muss die Linke selbstverständlich
energisch und unmissverständlich entgegen treten.
Umgekehrt wird es, von ein paar Wirrköpfen abgesehen, wohl
kaum Linke geben, die die Gefahr
abstreiten, dass unter den Flüchtlingsmassen versteckt auch einzelne Fanatiker
eingeschleust werden, um hier Verbrechen zu begehen, oder die Gefahr, dass Einzelne in den
Flüchtlingsunterkünften islamistischer Agitation auf den Leim gehen. Es darf
daher nicht als Rassismus oder Populismus verteufelt werden, wenn Linke eine
genaue – aber menschenrechtskonforme! – Kontrolle an den Grenzen und in den
Flüchtlingsunterkünften fordern. Allein das stellt den Staat und auch uns Linke
vor „erhebliche Probleme“.
Doch über diese tagespolitische Ebene hinaus sind die
Flüchtlingsströme von heute nur Vorboten der eigentlichen Probleme des 21. Jahrhunderts.
Probleme, die vor allem von den reichen Mächten des Westens erzeugt wurden und
die so, wie diese Mächte heute in der Welt agieren, mit Marktdominanz,
Rohstoffkriegen, globalen Rechtsbrüchen und Regime-change-Interventionen von
Tag zu Tag unlösbarer werden.
Schon zur Jahrtausendwende hatte der englische Geschichtswissenschaftler
Eric Hobsbawm dem neuen Jahrhundert
drei zentrale Probleme vorhergesagt:
-
Wenn die explosionsartige Vermehrung der Erdbevölkerung
(1950: 3 Milliarden Menschen – 2000: 6 Milliarden – 2030 nach UNO-Prognose: 10
Milliarden – …?) bei exponentiell zunehmender Ungleichheit der
Lebensbedingungen innerhalb und zwischen den reichen und armen Weltregionen
sich fortsetzt, wird sie einen Wanderungsdruck auf die reichen Länder erzeugen,
der mit demokratischen und marktwirtschaftlichen Mitteln nicht mehr
beherrschbar sein wird.
-
Hinzu kommt, dass Umweltzerstörung und
Klimawandel ganze Landstriche unbewohnbar machen und ganze Völkerschaften aus
ihren angestammten Gebieten vertreiben.
-
Noch verschärft wird der Druck auf die reichen
Länder durch die daraus unvermeidlich folgenden gewaltsamen Konflikte um
Ressourcen und Lebensräume.
In dieser – überwiegend vom Westen selbst verschuldeten –
Zwangslage sieht Hobsbawm die reichen Staaten vor die Alternative gestellt,
entweder ihre Grenzen radikal abzudichten oder (und) ausgewählte
Zuwanderergruppen z.B. als billige Arbeitskräfte, auf Zeit und nur mit
eingeschränkten Bürgerrechten aufzunehmen, sozusagen als Parias des Westens, was
einem Apartheidsregime gleich kommt. Beide Wege würden den zivilisatorischen
Grundkonsens in und zwischen den westlichen Gesellschaften zerreißen.
Wie Hobsbawm klar erkannte, können wir dieser Entwicklung
nicht entgehen, solange wir an unserem herkömmlichen Politik- und
Wirtschaftssystem festhalten – im Gegenteil verursacht und beschleunigt es diese
Entwicklung. Hobsbawm hielt – vor bald schon zwanzig Jahren – eines für „völlig
unbestreitbar“: Ein Ausgleich der Ungleichgewichte zwischen reichen und armen Ländern
„wäre unvereinbar mit einer
Weltwirtschaft, die auf dem unbegrenzten Profitstreben von
Wirtschaftsunternehmen beruht, welche ja per definitionem diesem Ziel
verpflichtet sind und die darum auf einem freien Weltmarkt konkurrieren… Wenn
die Menschheit eine Zukunft haben soll, kann der Kapitalismus (…) keine haben.“
(Das Zeitalter der Extreme, S.703) An anderer Stelle schrieb er (2009): „Soweit
ich weiß, gibt es keine Gesellschaft ohne den Begriff der Ungerechtigkeit. Und
daher soll es auch keine geben, in der man sich nicht mehr gegen sie auflehnt.“
Es kann Linke nicht verwundern, dass die Bundeskanzlerin
über die beschriebenen Folgen (auch) ihrer Politik leichtfertig hinweg redet.
In diesem Licht besehen, war Sahra’s Einspruch dagegen nicht nur vollauf gerechtfertigt,
sondern müsste allen Linken zu denken geben: Wir stehen tatsächlich vor
„erheblichen Problemen“, und die können wir nur gegen Merkel u.Co lösen.
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