Vielleicht denkt mein Parteivorsitzender Bernd Riexinger
nach der Wahl in den USA noch einmal darüber nach, ob das so stimmen kann, was
er ein paar Tage vorher in die linke Strategiedebatte warf (ND 29.10.16). Bis
dahin schätzte ich an ihm, dass er die linke Reformstrategie nach vorn
erweitern wollte, so z.B. (mit Katja Kipping): „Soziale Rechte, Demokratie und
Weltoffenheit sind heute nur noch im Vorwärtsgang zu verteidigen … Europa
braucht eine demokratische Revolution … setzt dem Europa der Banken und
Konzerne ein Europa von unten entgegen … stärker die (Selbst-)Organisation der
Menschen fördern … für einen neuen Verfassungsprozess von unten, in dem die
Menschen die Initiative haben.“ So wollte er die „Empörung von links besetzen.“
Alles nicht so ernst gemeint? Oder Angst vor der eigenen
Courage bekommen? Jetzt verlangt er, weil die Kritik an der EU von rechts
dominiert werde und die LINKE klar von den Rechten unterscheidbar sein müsse:
Schluss mit der „oberflächlichen Eliten- und Währungskritik“, es werde „Zeit,
dass die europäische Linke aufhört, verbissen über die Währungsfrage zu
diskutieren.“ Und mit der Währungsfrage haut er gleich alle linken
„Exit-Illusionen“ in die Pfanne.
Auch wenn er dafür den Begriff eines „dritten Pols“
aufgreift, der seit einiger Zeit durch die linke Debatte geistert und
ursprünglich die gesellschaftliche Opposition sowohl gegen den herrschenden
Machtblock als auch gegen die sich radikalisierende Rechte meinte, läuft das
bei ihm auf die De-facto-Parteinahme für jene Kräfte hinaus, die die EU
bewahren und „reformieren“ wollen. Seine hierfür vorgebrachten Argumente sind
aber allesamt unhaltbar.
1. Linke Elitenkritik oberflächlich? Nicht von
der Rechten unterscheidbar?
Wer Donald Trump wählte, weil er/sie sich von ihm eine
andere Politik als die des Wallstreet-Establishments erhofft, wird schnell noch
einmal enttäuscht werden. „Amerika“ wird nicht wieder so „great“ werden wie
früher, die Klimakatastrophe wird vor den Farmern in MiddleWest nicht halt
machen, es werden neue Spekulationsblasen platzen und weitere Millionen
Existenzen ruinieren, Trumps Populismus wird sich schnell als hohle Prahlerei
offenbaren.
Sicher trifft es zu, dass Trump auch in erheblichem Maß
Enttäuschung und berechtigte Wut auf das „Establishment“ für sich mobilisieren
konnte. Diese Stimmung gewinnt auch in Europa an Boden. Da wäre es natürlich
eine absurde Strategie, den Populismus hier bekämpfen zu wollen, indem wir uns
schützend vor das EU-Establishment stellen. Das tut Bernd R. auch nicht. Er
wendet sich nur gegen „oberflächliche“ Elitenkritik.
Ist es oberflächlich, wenn wir der hierzulande herrschenden
Klasse vorwerfen, sie würde über internationale Verträge die Demokratie
aushebeln, um sich ungestörter den gesellschaftlich erzeugten Reichtum anzueignen
und die sozialen und Menschenrechte außer Kraft zu setzen? Was ist
oberflächlich an der Kritik, unsere Elite habe die EU-Institutionen genau so
verfasst und durchgesetzt, dass sie ihre elitäre Vorherrschaft über das eigene
Volk und Europas Völker absichern und verstärken? Derlei Kritik von links kommt
ja überwiegend sehr konkret und sachkundig daher. Das unterscheidet sie
fundamental vom Populismus. Darum geht es doch wohl nicht. Worum es vielmehr geht
ist, was die Kritik für praktische Konsequenzen haben soll oder nicht.
2. Wie wichtig ist die Währungsfrage?
Bernd Riexinger warnt vor der Illusion, „primär“, „in erster
Linie“ über die Abschaffung des Euro größere Verteilungsspielräume zu bekommen.
Denn, so behauptet er: „Ein ‚Sozialstaat in einem Land‘ ist aber auf Dauer kaum
möglich.“ Das Scheitern des Keynesianismus in einem Land sei „notwendig“ (er
meint zwangsläufig, unvermeidlich). Beweis? Nur der misslungene Eiertanz der
Ära Mitterand in Frankreich in den 80er Jahren zwischen Volksfront und imperialistischem
Auftrumpfen in Konkurrenz und Kooperation mit Deutschland. Nun gibt es ja ganze
Bibliotheken voll mit dem Streit über die Zukunftsfähigkeit des Keynesianismus.
Aber davon abgesehen habe ich noch von niemand die Ansicht gehört oder gelesen,
mit der Ablösung des Euro durch einen flexibleren Verbund nationaler Währungen
werde der Kapitalismus sozialer und humaner. Wer will denn welches linke
Projekt über die Währungsfrage „abkürzen“, wie R. mutmaßt?
Anerkennen müsste aber auch er, dass die Währungsunion genau
so konstruiert ist und quasi automatisch funktioniert, dass sie die
Umverteilung von unten nach oben in Europa und auch in Deutschland enorm
beschleunigt und unsere Kämpfe dagegen enorm erschwert. Schon deshalb muss sie
weg. Und das so schnell wie möglich.
3. Euro, Exit und Krise
Bernd Riexinger warnt eindringlich, die Rückkehr zu nationalen
Währungen wäre mit einem länger anhaltenden Krisenprozess mit unklarem Ausgang,
neuen Finanzspekulationen, deutlichen Wohlstandsverlusten und verschärften
Verteilungskämpfen verbunden. Damit hat er wahrscheinlich Recht.
Allerdings sind alle mir bekannten Fachleute unter den
Exit-Befürwortern sich einig, dass das Kapital dazu nicht erst die Linke
braucht, sondern schon selbst auf den Kollaps dieses Währungssystems zutreibt,
mit allen Krisenerscheinungen für die Völker Europas und auch für uns in
Deutschland, die R. aufzählt. Bei allen mir bekannten linken
Alternativvorschlägen geht es folglich, anders als R. implizit suggeriert,
nicht darum, dass eine falsche linke Strategie eine Krise verursachen würde,
sondern darum, der absehbar sich zuspitzenden Krise des Euroregimes
zuvorzukommen und einen Ausweg mit geringstem Schaden für die Menschen zu
verabreden, zu dem die Elite weder willens noch fähig ist.
4. Die Kräfteverhältnisse
Die Verteilungsspielräume für eine soziale Politik, schreibt
Riexinger, „hängen in erster Linie von der Position in der kapitalistischen
Weltwirtschaft ab.“ Es tut mir leid, Genosse Vorsitzender, das klingt fatal nach
der Standortlogik, die wir tagein-tagaus von den Spitzen der Sozialdemokratie
und der Gewerkschaften zu hören kriegen, und es wird nicht besser, wenn ein
Spitzenmensch der LINKEN es nachbetet. Spielräume? Das Spiel heißt
Klassenkampf, an anderer Stelle sagst du es ja selbst. Das bedeutet: In erster
Linie (!) hängt das „Spiel“ vom Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit ab
und nicht von weltwirtschaftlich zu erobernden „Spielräumen“.
Tatsächlich, aus diesem Kampf gibt es keinen Exit, da hat er
Recht. Doch in Bezug auf das Kräfteverhältnis müssen wir wohl oder übel als
erstes die Tatsache anerkennen, dass die Kapitalistenklasse, einschließlich
Eigentümer und Befehlshaber der größten Konzerne und Finanzimperien, weiterhin
national verankert und organisiert ist. Da darf die Linke nicht auf die
bürgerliche Verkürzung des „Globalisierungs“-Begriffs hereinfallen. Wenn R.
schreibt: „Entscheidend ist, dass die EU einem neuen Niveau der Verflechtungen
des Kapitals und damit wirtschaftlicher Abhängigkeit entspricht,“ ist er schon auf
die propagandistische Verkürzung des Begriffs hereingefallen. Globalisierung vollzieht
sich heute ja nicht als Zusammenwachsen der Multis zu einem europaweiten Monopol
(„Verflechtung“), sondern als die trans- und multinationale Ausdehnung der
weiterhin national verankerten Kapitalblöcke und ihre europa- und weltweiten
Kämpfe um Marktbeherrschung, um Vorherrschaft sowohl in (zeitweiligen)
Kooperationen als auch in Konkurrenz, und diese letztere ist und bleibt als die
„natürliche“ Bewegungsform des Kapitals vorherrschend. Warum das so wichtig
ist? Damit wir die gegenwärtige und absehbare Bedeutung der Nationalstaaten im
Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit richtig einschätzen, sie nicht über-
aber auch nicht unterschätzen.
Es stimmt eben gerade nicht mit den Tatsachen überein, dass
mit der EU das Kapital sich eine neue staatliche Ebene geschaffen habe, wie R.
behauptet. In den Kernbereichen staatlicher Machtausübung, als da sind: Außen-
und Sicherheitspolitik, Innen- und Rechtspolitik, Steuer-, Finanz- und
Haushaltspolitik setzen die nationalen Kapitalistenklassen nach wie vor auf
ihre nationalstaatliche Hoheit und liefern sich in der EU erbitterte Kämpfe,
die sich voraussichtlich mit der Eurokrise weiter verschärfen werden.
Weil das so ist – und nicht weil Gewerkschaften und
Sozialverbände so borniert und rückständig wären – spielen sich nach wie vor
fast sämtliche sozialen Kämpfe in Europa auf den Hoheitsgebieten der jeweiligen
Nationalstaaten ab. Das ist eine Tatsache, über die Schöngeister wie Jürgen
Habermas, Jeremy Rifkin oder Ulrich Beck zwar gern hinwegträumen, an denen die
linke Strategie aber nicht vorbei kommt: Wer den „Sozialstaat“ verteidigen
will, muss ihn auf nationalstaatlicher Ebene verteidigen.
Riexingers Fazit, dass ein koordinierter „left exit“ in
einigen Eurostaaten nur möglich wird aufgrund einer umwälzenden Verschiebung
der Kräfteverhältnisse hin zu einer linken Hegemonie, stimme ich natürlich
uneingeschränkt zu. Wenn er daraus aber schließt: „Dann wäre es wiederum
vermutlich auch möglich, eine grundlegende Reform der EU durchzusetzen,“ dann ziehe
ich mit derselben Berechtigung genau den Umkehrschluss: Die Kräfte, die
notwendig wären, die EU-Eliten zu einer ganz anderen – demokratischen,
sozialen, solidarischen – EU-Politik zu zwingen, würden auch ausreichen, um
einen ganz anderen europäischen Staatenbund von unten zu schaffen.
Und wenn er am Schluss auf die vielfältigen Teilkämpfe hinweist,
die eine Neugründung Europas von unten vorbereiten können, ergänze ich: Zu ihnen
gehören die staatliche Haushalts- und Fiskalpolitik und damit auch der Kampf um
Währungssouveränität unverzichtbar dazu. Nicht vorrangig vor allen anderen,
aber neben den anderen eben auch.