Dienstag, 28. November 2017

GroKo? Minderheitsregierung? Egal, die Herrschaften bleiben eh‘ unter sich. Aber ihr "Weiter-so" funktioniert nicht mehr.

Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen wird jetzt die brave alte SPD so lange weich gekocht, bis sie freiwillig den Geist aufgibt. Noch vier Jahre Merkels Stallknecht, und niemand kann sich mehr erinnern, dass diese Partei jemals eine andere gesellschaftliche Rolle spielte als den Neoliberalismus rosa zu sprenkeln und den eigenen Funktionären warme Plätzchen zu sichern. War das ihr Wählerauftrag? War die Sozialdemokratie nicht als historische Gegenkraft gegen Kapitalherrschaft und Ausbeutung gegründet worden? Waren nach der schallenden Ohrfeige von den Wählern am 24.09.2017 nicht zwei Jahre "Erneuerung" angesagt? Alles vergessen außer dem "Weiter-so"?

Ob die Sozialdemokraten es erkennen oder nicht, sie stehen vor einer Entscheidung von historischer Tragweite. Seit Gerhard Schröder 2005 wegen der Hartz-Gesetze die Kanzlerschaft vergeigte und der ersten GroKo unter Angela Merkel Platz machen musste, hat die SPD in drei Großkoalitionen 18 Prozent ihrer Wählerstimmen verloren und rauschte von 38,5% auf 20,5% in den Keller. Jetzt noch eine GroKo, und sie kracht in vier Jahren nach Adam Riese auf ca. 15 Prozent ab. Von da an gibt es in Deutschland nur noch eine einzige „Volkspartei“, ohne die niemand mehr regieren kann – Merkels „marktkonforme Demokratie“ in Ewigkeit amen.

Warum brennen die führenden SPD-Köpfe jetzt trotzdem so heftig auf eine „stabile Regierung"? Weil der Wirtschaftslobby (zu der auch fast alle Spitzenfunktionäre der SPD zählen) die Muffe geht: Unübersehbar steht unsere Gesellschaft an einer Zeitenwende. Auf der Kippe steht der Status quo. Nicht nur Deutschland und Europa, die ganze „westliche" Welt steckt in einer tiefen Krise. Die großen Wirtschaftsmächte ringen darum, wer als Gewinner und wer als Verlierer aus der Krise herauskommt. Es geht also wieder mal um die Stärke des deutschen Kapitals in der Welt. Hier die wichtigsten Krisenmomente:

- Vordergründig leiden die führenden Industrieländer am Schrumpfen ihrer wirtschaftlichen Wachstumsraten.1 Eine kapitalistische Wirtschaft ohne Mengenwachstum mindestens in Höhe des Produktivitätsfortschritts erzeugt aber immer krassere soziale Gegensätze, "bad jobs", Arbeitslosigkeit, Armut, mit allen Folgen eskalierender Konflikte, bis hin zu verödeten Regionen, zerfallenden Staaten, Aufständen, Sezessionen, Bürgerkriegen; auf längere Sicht läuft sie Gefahr, am Widerspruch zwischen Produktivitätszuwachs und stagnierenden Märkten zu ersticken.

- Zum Krisenproblem wird aber auch die Fortsetzung der Wachstumsdynamik, weil sie schon lange und zunehmend Raubbau an den natürlichen Ressourcen betreibt und global unsere Lebensgrundlagen zerstört (Klima, Wasser, Boden, Vegetation, Artenvielfalt). Da dies Problem erwiesenermaßen mit marktwirtschaftlichen Methoden nicht gelöst werden kann (siehe die Ohnmacht der Klimakonferenzen gegenüber „den Märkten"), führt es zu Massenmigrationen in den ruinierten Weltregionen und aus diesen heraus in die Wohlstandsgesellschaften.

- Nach 1989 haben bewaffnete Konflikte weltweit massiv an Zahl, Umfang der Zerstörungen und zivilen Opfern zugenommen. Eine wesentliche Ursache, auch für Bürgerkriege, Warlords und Terrorarmeen, bildet die aggressive Konkurrenz der kapitalistischen Mächte um Märkte und Einflusszonen. Die Folge sind weiter anschwellende Flüchtlingsströme aus zerstörten und verelendeten Zonen, gegen die sich die "zivilisierten" Länder zunehmend abschotten und ent-demokratisieren (Anti-Terror-Gesetze, Flüchtlingslager, autoritäre Regimes usw.)
Nicht zuletzt wächst damit die Gefahr direkter militärischer Konfrontation der Großmächte.

- Die EU gilt noch vielen als Garant des Friedens zwischen den früheren europäischen Kriegsgegnern. Doch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, die in vielen Ländern bis heute nicht überwunden ist, zerfällt die EU, und hinter der Friedensfassade trumpft der alte deutsche Vormachtanspruch wieder auf. In vielen Ländern, aber auch bei uns werden nationalistische und faschistische Bewegungen offen oder heimlich unterstützt, um mit Hetze gegen Flüchtlinge, Einwanderer, Muslime, die „faulen Griechen" usw. den Volkszorn auf äußere Feindbilder abzulenken.

- Nicht dramatische Schreckensszenarien einer angeblich drohenden „Explosion" der Weltbevölkerung, sondern die abgrundtiefe Kluft zwischen reichen und armen Weltregionen wird noch weit stärkeren Wanderungsdruck auf die reichen Staaten erzeugen, als wir uns das heute vorstellen können, und hier zu mehr und mehr gewaltsamer Abwehr führen.

Wer hat uns in diese Abwärtsspirale hineingetrieben? Unfähige Regierungen, korrupte Meinungsmacher, dumme "Eliten", raffgierige Spekulanten, kurzsichtige Unternehmer, egoistische Verbraucher, unmündige Wähler? Ja und nein. Sie alle haben ihre bestimmte Stellung im Gesellschaftssystem, nach dem das Zusammenleben einige Jahrhunderte lang funktionierte. Sowohl die Produktion des materiellen Reichtums als auch die zugehörige, von den Marktbeziehungen der Privateigentümer geprägte Lebensweise treibt uns in die Krisenspirale hinein. Und die Gier der Superreichen ist die schlimmste Krisenursache.

Das alles wissen die alten Hasen der „politischen Klasse“ so gut wie wir. Und sie wissen auch: Egal ob man die heutige Entwicklungsstufe der Menschheit "Kapitalismus", "Moderne", "das bürgerliche Zeitalter" oder sonstwie nennt, kennzeichnet sie eine Gesellschaft, in der eine Minderheit über die wichtigen Produktionsmittel als ihr Privateigentum verfügt, so dass die Mehrheit, die im wesentlichen nur ihre Arbeitskraft besitzt, diese an die Kapitaleigentümer verkaufen muss, um leben zu können. Aus diesem Klassengegensatz auf der Produktionsebene ergibt sich ihr unterschiedlicher Einfluss im gemeinsamen politisch-juristisch-ideologischen Überbau, den sie, die „Elite“, das Bürgertum aufgrund der Eigentumsordnung dominiert. Das ist der Status quo, den sie verteidigen. Dazu brauchen sie ihre „stabile Regierung“, egal wie.

Und wenn die SPD nicht umfällt?

Wie sich aus dem bisher Gesagten mit zwingender Logik ergibt, müsste eine Mehrheit der Bevölkerung, bestehend aus der Arbeiterklasse und Teilen des kleinen und mittleren Bürgertums, objektiv ein unmittelbares, starkes Eigeninteresse an einem Systemwechsel haben. Doch dem objektiven Interesse entspricht kein subjektives Wollen. Ganze Bibliotheken sind voll von Untersuchungen, mit welchen Methoden die herrschende Klasse es noch schafft, die Mehrheit an der Suche nach einer Alternative zu hindern. (Die platte Argumentation, ein anderes System sei abzulehnen, weil die Mehrheit kein anderes wünscht, ist daher so inhaltsleer wie die Aussage: "Die Mehrheit hat recht, weil sie die Mehrheit ist und Mehrheiten immer recht haben.")

Bekanntlich lässt sich aber die Zukunft kaum nach den Gesetzen der Logik vorhersehen und schon gar nicht nach diesen allein. Wir sagen, für etwas Neues muss die Zeit reif sein. Oder mit Karl Marx' Worten: "Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktivkräfte treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind." (K.Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW Band 13, Berlin 1972, S.9)

Diese allgemeine Einsicht gilt selbstverständlich auch für die Strategie politischer Parteien, die eine neue Gesellschaftsordnung anstreben. Sie haben zu beachten, dass der Kapitalismus besonders auf vier Gebieten die Produktivkräfte noch erheblich weiter entwickeln und zugleich die materiellen Bedingungen für eine neue Gesellschaft "ausbrüten" kann:

- Die weltweite Ausdehnung der kapitalistischen Wirtschaft ("Globalisierung") kann noch riesige Arbeitskraftreserven mobilisieren und Märkte erschließen. - Diese Tendenz steht allerdings im labilen, sich täglich verschärfenden Gegensatz zu den eingangs skizzierten Krisenmomenten.

- Die Wissensproduktion mithilfe neuer Informationstechnik (Computerisierung) hebt die Fähigkeiten der menschlichen Arbeitskraft auf bisher unbekannte Höhen verwissenschaftlichter Produktion - und qualifiziert damit die Arbeiterklasse weiter zur Übernahme der Produktion und Verteilung in eigene Regie.

- Die digitale Vernetzung der Produktions- und Marktbeziehungen über die Grenzen der Einzelkapitale hinaus erzeugt Rationalisierungsschübe von noch nicht absehbaren Ausmaßen - und stößt zugleich an die Grenze der gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse.

- Die Gentechnologie kann im Zusammenwirken mit einer echten, dezentralen Energiewende sowohl die Nahrungsmittelproduktion als auch den Ressourcenverbrauch so revolutionieren, dass der Kollaps des Ökosystems vermieden werden kann.

Ob bzw. wie weit „die Märkte" - die chaotischen Konjunkturen privater Investitionsentscheidungen! - zu so großen Sprüngen fähig sind, liegt noch im Dunkeln. Dennoch erzeugen oder verstärken diese gigantischen wirtschaftlichen Potentiale bei vielen Menschen Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Lebenslage und die Überwindung der Krisen innerhalb der bestehenden Ordnung; und vielleicht noch mehr Menschen sehen darin den Spatz in der Hand, den sie einer unbekannten Taube auf dem Dach vorziehen. Diese Menschen bilden die eigentliche Massenbasis der Sozialdemokratie. Ihnen würde die SPD mit einer neuen GroKo in den Rücken fallen – oder aber mit einer linken Reformalternative ein neues politisches Ziel geben.

Dass eine Mehrheit trotz der unübersehbaren Endzeitsymptome der Gegenwart noch davor zurückschreckt, sich eine Zukunft über den Kapitalismus hinaus ernsthaft vorzustellen, ist also keineswegs nur der herrschenden Propaganda geschuldet, sondern Ergebnis einer durchaus nüchternen materiellen Abwägung: Wie immer in der Geschichte lässt sich die Mehrheit erst auf Neues ein, je mehr sie sich durch Tatsachen überzeugen kann, dass das Neue dem Altgewohnten überlegen ist. Die Folge ist, dass Altes und Neues meist lange nebeneinander bestehen, bis das Neue sich durchsetzt.

Es würde sich aber niemals durchsetzen, wenn es keine tatkräftige und zielklare Minderheit gibt, die mit seiner praktischen Verwirklichung anfängt. Dazu braucht es sowohl die LINKE als auch eine selbstbewußte, ihrer historischen Bedeutung bewußte SPD. Gemeinsam wären wir auch in der Opposition eine starke Gegenmacht, die zeigen kann, wie soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Friedenspolitik auch gegen die Blockade einer kurzsichtigen Oberschicht praktisch zu verwirklichen sind.


1 Jährliche BIP-Zunahme von 2008 bis 2016 in der OECD durchschnittlich +1,1 % - in der BRD +0,95 % - in den 90‘er Jahren lag sie noch bei +2,6 % (OECD) bzw. +2,3 % (BRD). Dieser rückläufige Trend geht einher mit einem Zurückbleiben der Industrieproduktion hinter dem „Volkseinkommen" (Summe der Arbeitsentgelte plus Unternehmens- und Vermögenseinkommen)

Freitag, 10. November 2017

Ein „Godesberg“ für die LINKE? „Alternative innerhalb des Systems“ sei „alternativlos“, meint Heiner Flassbeck.

Heiner Flassbeck ist ein Ökonom, dessen Beiträge zur „Regimekritik“ des Neoliberalismus Spitze sind. Über seine Ratschläge zur Strategie der Linken kann ich nur den Kopf schütteln, sie zeugen von erstaunlich ahistorischer Kurzsichtigkeit. In einer Wortmeldung zu den Ergebnissen der Bundestagswahl polemisierte er jetzt gegen jene Linken, die sogar in Wahlprogrammen immer noch auf eine Zukunft jenseits des Kapitalismus setzen.

Den Kern seiner Einwände gegen sozialistische Zukunftsträume bringt schon seine Überschrift auf den Punkt: "Gibt es nur eine Alternative im Nirgendwo?" Ins Nirgendwo führe nämlich die linke "Flüchtlingsdebatte", und zwar vor allem, weil in linken Kreisen "der Kapitalismus" als solcher am Pranger stehe. Das hält Flassbeck für abwegig, weil heute niemand sagt (und sagen kann), wie eine nicht-kapitalistische Zukunft besser funktionieren soll als das gegenwärtige System.

Na und? frage ich, was unterscheidet darin die Endzeit der bürgerlich-kapitalistischen Ära von allen vorhergegangenen Epochen? War es nicht immer so, dass die Herrschenden ihre Herrschaft schon deshalb für ewig hielten, weil sie sich partout nicht vorstellen können, wie eine subalterne Klasse dahergelaufener Nobodys, die bis dato keinerlei politische Rolle spielte, arme Teufel, ungebildet, schlecht organisiert, mit der Macht unvertraut und ohne Plan, ein ganz neues Herrschaftssystem aus dem Boden stampfen könnte? Und haben die Nobodys nicht doch immer ihren ganz neuen Weg in unbekanntem Gelände suchen müssen - und gefunden?! Hatte das junge Bürgertum, als es erst in England, dann in Frankreich Revolution machte und seine bürgerliche Herrschaft erfand, etwa ein fix-und-fertiges Rezept in der Tasche, eine Roadmap in die Zukunft? Nein, Flassbeck, man muss nicht Geschichte studiert haben um zu erkennen, dass der Einwand, wir hätten keinen genauen Plan für's Leben jenseits des Kapitalismus, ahistorisch kurzsichtig ist. Wer von der Linken so einen Plan erwartet, wird zeitlebens der realen Entwicklung hinterher traben.

Zu kurz ist aber auch die Messlatte, die Flassbeck an jegliche Zukunftsvision anlegen will: „Die große Mehrheit will kein anderes System." „Kritische Linke bestätigen permanent, dass es keine Alternative außer dem Umbruch, der Revolution gibt, die aber die Menschen in den westlichen Gesellschaften mit großer Mehrheit ablehnen..."

Wie hat man sich dann also die Geburt einer neuen Zeit vorzustellen? Durch Ankreuzen auf dem Wahlzettel? Darf die Menschheitsgeschichte unter keinen Umständen fortschreiten, ehe nicht die Mehrheit zugestimmt und idealerweise das alte bürgerliche Parlament ihr Votum beglaubigt hat? In der wirklichen Geschichte können wohl große Menschenmassen (Mehrheiten??) überlebte Strukturen umstürzen, wenn diese nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprechen. Aber dem Neuen, das regelmäßig von Minderheiten aus der Taufe gehoben wird, stimmt die Mehrheit erst nach und nach zu, je mehr sie sich praktisch überzeugen kann, dass es dem Altgewohnten überlegen ist. Die Folge ist, dass Altes und Neues meist lange nebeneinander bestehen, bis das Neue sich endgültig durchsetzt. Wer sich historische Schübe wie die Auflösung der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse so idyllisch – vielmehr bürokratisch! – vorstellt, dass man sie an einem Wahlsonntag erledigen kann, liegt mindestens ebenso falsch wie jene Revoluzzer, die vom großen Kladderadatsch träumen.

An dieser Stelle geht es ans Eingemachte: Hier müsste nämlich auch ein Makroökonom sich fragen, was eigentlich (außer dem Wahlprogramm der Linkspartei, haha) geschichtliche Entwicklungen voran treibt. Hat der angeblich alternativlose Kapitalismus überhaupt eine Zukunft? Vielmehr wir, die Menschheit, in ihm? Ich meine damit hier jetzt nicht das Katastrophenszenario, das uns täglich mehr Menetekel an die Wand schreibt. Sondern die ernste Frage, wie weit das trägt, was Flassbeck als "Alternative innerhalb des Systems" empfiehlt: "höhere Löhne, Umverteilung von Reich zu Arm, bessere soziale Absicherung der Arbeitslosen und vom Staat Abhängigen" und alles wird gut?

Hier stößt der seriöse Wirtschaftsfachmann an die Grenzen seiner wissenschaftlichen Sorgfaltspflicht. Anstelle solcher wohlfeilen Patentrezepte hätte er zu fragen, welche systemischen Ursachen die doch unübersehbaren Krisenerscheinungen haben, die "den Kapitalismus" seinem Kollaps zutreiben. – Falsch, sagt Flassbeck, "den Kapitalismus" gibt es ja gar nicht. - Aber dessen Krise(n) gibt es, und sollte die Analyse ergeben, dass sie systemische Ursachen haben, etwa in den zunehmenden Widersprüchen einer Produktionsweise, die vom Privateigentum an den Produktionsmitteln und somit von Marktbeziehungen geprägt ist, mit der fortschreitenden Vergesellschaftung der Arbeit, dann müsste auch der Ökonom sich um die Zukunft Sorgen machen.

Flassbeck hinterfragt das aber nicht. Wenn die Leute keine andere Alternative wollen, meint er, hätten sie "damit vollkommen Recht. Denn es gibt kein anderes System, das man heute jenseits von Träumereien und Spinnereien als ernstzunehmende Alternative an den Mann und an die Frau bringen könnte." Basta! Also müssten wir uns mit dem abfinden, was wir den Privateigentümern vom gesellschaftlichen Reichtum vielleicht abringen können.

Und weil er das für die historische Perspektive hält, setzt er all seine und unsere Hoffnung auf "den Staat". – Wer aber ist "der Staat"? Flassbeck äußert sich dazu nicht weiter. Da erscheint der Staat als ein neutraler Dritter zwischen Reich und Arm, neben Kapital und Arbeit, sogar als demokratische Herrschaft über das Kapital. Kann das sein?

Unbestreitbar wird Wirtschaft schon seit Jahrtausenden staatlich organisiert. Genauer gesagt: mithilfe der Staatsmacht. Denn Staat ist Macht. Und zwar eine andere Art Macht als die wirtschaftliche. Wer sind die Träger der Staatsmacht? Individuen? Beamte? Gewählte “Volksvertreter“? “Die Wähler“? Nun, alle politische Macht basiert auf den verschiedenen Funktionen der Gesellschaftsklassen in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums. Vor allen anderen hier zu nennen: Kapital und Arbeit. Das Kapitalverhältnis, als gesellschaftliches Verhältnis des Privateigentums an den Produktionsmitteln und seiner Kehrseite, der Lohnarbeit, erzeugt aber ein asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis der Arbeit vom Kapital. Wer auch nur einen Tag in einem kapitalistischen Unternehmen beschäftigt war, wird das bestätigen. Dies Klassenverhältnis macht den Staat zum Machtinstrument der Kapitalistenklasse.

In ihm sind die grundlegenden, systemtypischen Konflikte nicht von kurzfristigen (Wähler-) Präferenzen erzeugt, nicht einmal an bestimmte Regierungsformen gebunden (etwa die parlamentarische Demokratie), sondern vom Niveau und der langfristigen Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft abhängig. Die zukunfts-entscheidende Frage ist also nicht, ob und wieweit “der Staat“ in demokratischer Willensbildung den Kapitalismus zügeln und humanisieren kann, sondern: Sind die dramatisch eskalierenden Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse lösbar oder sprengen sie diese Verhältnisse in die Luft?

Solche Überlegungen liegen offenbar außerhalb von Flassbecks Gesichtskreis. Das macht seinen Ratschlag an die Linke zur platten Ideologie. Leider.

Soviel kann man zur vor uns liegenden Aufgabe schon sagen - und die LINKE sagt es (bei allen Streitigkeiten um die Strategie und Unklarheiten über Details des Übergangs):
Die Produktivkräfte haben ein Niveau erreicht, das sich nur noch mit "common-istischer" Organisation der Produktion und der Verteilung beherrschen lässt. Die Überwindung der privaten Macht über Produktionsmittel und -ergebnisse – und damit des Warentauschs – ist daher zur Existenzfrage der Menschheit geworden. Auf Gedeih und Verderb muss die Menschheit sie neu beantworten. Auch wenn die Gefahr wächst, dass Mehrheiten dies erst erkennen, wenn das Kind im Brunnen liegt.

Flassbeck schließt seine Polemik damit, der LINKEN einen "Godesberg-Moment" zu wünschen, nämlich den Verzicht auf jegliches Streben nach Systemüberwindung, „um wirklich etwas verändern zu können." – Frage: Hat die SPD nach ihrem Godesberg "den Kapitalismus“ so verändert, dass er uns nicht in seine Katastrophe(n) mitreißt? Frommer Wunsch, zu kurz gedacht, abgelehnt. Schade.


p.s.: Flassbeck bleibt dennoch ein großer, von allen Kritikern des wirtschafts- und finanzpolitischen Status-quo der unverzichtbarste.

Freitag, 3. November 2017

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Linke Alternative zum Versagen der Wohnungspolitik in Dortmund

Vortrag für die LINKE-Dortmund Hörde

Wer als Dortmunder Bürger/in mit einem Durchschnittseinkommen heute eine Wohnung sucht, hat mindestens zwei dicke Probleme.
Das kleinere  von beiden – aber für viele schon kaum lösbar – ist, dass die neue Wohnung – sofern er/sie denn eine gefunden hat – im Regelfall deutlich teurer wird als die bisherige.

In den letzten acht Jahren zogen die „Angebotsmieten“ (so nennen Experten die Nettokaltmiete bei Neu- oder Wiedervermietung) zum Beispiel im Dortmunder Stadtbezirk Hörde jährlich um 5,7% an -- sogar stärker als in ganz Dortmund um jährlich 4,1%, und somit siebenmal so stark wie die Verbraucherpreise stiegen (0,8% p.a.).

Das hat zur Folge, dass die Mietbelastung des durchschnittlichen Haushaltseinkommens der Dortmunder-innen in etwas mehr als einem Jahrzehnt von 27% auf 34% zunahm (nur durch die Nettokaltmiete, hinzu noch die Nebenkosten, die noch schneller explodierten).

Das hat weiter zur Folge, dass inzwischen vier von zehn Dortmunder-innen -- also fast die Hälfte der Bevölkerung -- Anspruch auf einen „Wohnberechtigungsschein“ für eine Sozialwohnung hätten.

Jedoch ein solcher Schein hilft den meisten Wohnungsuchenden überhaupt nicht weiter. Denn das viel größere Problem ist inzwischen, in Dortmund überhaupt eine Wohnung zu finden, die ein Normalverdiener bezahlen kann.

Dortmund leidet akuten Mangel an Wohnraum im unteren Preisbereich. Der Mangel hat Ursachen.

1.    Dortmunds Einwohnerzahl wächst wieder. Und zwar um zuletzt 4.600 Neubürger in einem Jahr. Heute leben hier 25.000 mehr Menschen als 2009.

Die Stadtregierung bejubelt das als einen Erfolg ihrer Wirtschaftsförderung. (Dazu unten mehr.) Aber es ziehen nicht nur Leute mit hoher Mietleistungskraft her, sondern noch mehr „arme Schlucker“, etwa aus dem Osten und Südosten des Kontinents im Rahmen der EU-Freizügigkeit oder als schutzsuchende Flüchtlinge aus aller Welt.

2.    Der Wohnungsbau hält mit diesem verstärkten Andrang besonders im unteren Preissegment nicht Schritt.

Im vorigen Jahr wurden in Dortmund zwar über 1.000 neue Wohnungen genehmigt, aber darunter nur 274 Sozialwohnungen. Zum Beispiel sind am Phoenixsee in Hörde von 1.200 neuen Wohneinheiten nur 90 öffentlich gefördert und damit sozialgebunden.

3.    Der Bestand an vorhandenen Sozialwohnungen geht seit vielen Jahren kontinuierlich zurück.

Und das nicht etwa durch Abriss oder Nutzungsänderung, sondern weil nach der Tilgung der öffentlichen Darlehen die Mietpreis- und Belegungsbindung wegfällt.
In Dortmund gab es Ende 2016 für mehr als 125.000 Haushalte mit „Wohnberechtigung“ nur noch knapp 20.000 sozialgebundene Mietwohnungen. Allein in 2016 lief für weitere 2.200 ehemals geförderte Wohnungen die Sozialbindung aus. Im gleichen Jahr 2016, als 274 neue Sozialwohnungen genehmigt wurden, gingen also achtmal so viele verloren.

Das führt dazu, dass Jahr für Jahr mehr Wohnungsuchende beim Dortmunder Wohnungsamt auf der Warteliste stehen. Ende 2016 waren es mehr als 1.600; hinzu kommen 1.500 Asylbewerber und „UmF“ (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge), die noch in Sammelunterkünften leben müssen und ebenfalls auf eine eigene Wohnung warten; zusammen also 3.100 Bewerber um ganze 274 Wohnungen = das heißt neun von zehn „Wohnberechtigten“ haben keine für sie bezahlbare Wohnung gefunden.

Das ist eine völlig verrückte Entwicklung. Aber keine unglückliche Ausnahmesituation eines ansonsten guten Systems, sondern es ist von vorn herein im System des Sozialen Wohnungsbaus so verrückt angelegt und politisch gewollt:

-       Der SWB fördert nämlich nicht bedürftige Mieter, sondern er fördert die Vermieter, die Kapitalanleger am privaten Wohnungsmarkt.

Indem der Staat einem Investor ein zinsvergünstigtes Darlehen gibt, verpflichtet sich dieser, die geförderten Wohnungen mit einer bestimmten Mietobergrenze nur an Haushalte mit WBS zu vermieten – aber nur bis das öffentliche Darlehen vollständig getilgt ist, also etwa nach 25 Jahren kann er dann die Wohnungen frei für jeden Preis vermieten, den der Markt hergibt. Neuerdings bietet der Staat neben den günstigen Darlehen auch noch Tilgungsnachlässe an, womit die Laufzeit der Sozialbindung sich noch weiter verkürzt.

-       Gewollt ist aber nicht nur diese systematische Fehlkonstruktion des öffentlich geförderten Geschäfts mit der Wohnungsnot, sondern gewollt ist auch eine „marktkonforme“ Politik, die das zunehmende Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage noch verschärft:

Warum wachsen manche Städte und Regionen, während andere schrumpfen? Die meisten Stadtsoziologen und –ökonomen sind sich über den Hauptgrund einig: Die Menschen ziehen den Jobs hinterher. Und Jobs gibt es dort wo Kapital sich konzentriert. Kapitalistisch verfasste Märkte haben die Eigenschaft, Investitionen da zu vermehren, wo schon ähnliche Unternehmen und zugehörige Lieferketten vorhanden sind, die Wissenschaft nennt das „Clusterbildung“.

Die Dortmunder Wirtschaftsförderung hat das vor 20 Jahren erkannt und gezielte Hilfen für Hitech- und Logistik-Cluster zu ihrem obersten Prinzip erhoben. Die Rechnung ist aufgegangen, wie der Zuzug von Unternehmen und vielen Fachkräften in diese Cluster zeigt.

Was Märkte aber nicht leisten, ist, die Folgen der Kapitalkonzentration sozial abzufedern. Diese Folgen sind nicht alle positiv, sondern zum Teil prekär bis katastrophal. In den stagnierenden oder schrumpfenden Regionen, aus denen Kapital und Arbeitsplätze abwandern, sinkt die Lebensqualität – aber sie sinkt auch in den wachsenden Städten und Stadtteilen, die an Verkehrs- und Umweltbelastungen ersticken, Bauland wird teuer und vernichtet Freiflächen, Wohnungen werden knapp, die Mieten explodieren, kurz: die Lebensqualität sinkt.

Die genannten Zahlen zeigen uns, wie der Markt versagt. Wohnungen werden gebaut, aber nur um gut qualifizierte Fachleute anzulocken, für diese entstehen viele hundert Wohnungen in besten Lagen – unterversorgt hingegen bleibt die große Masse derer, die in den Kapital-Clustern keine Verwendung finden.

Da müsste dann die Stadt- und Regionalpolitik eingreifen und gegensteuern.

Jedoch ein Politikverständnis, das die ganze Welt nur noch als Markt versteht und folglich auch die Städte und Regionen selbst in den „Standortwettbewerb“ gegeneinander hetzt, eine solche Ideologie ist zu einer sozialen Wohnungsbaupolitik nicht mehr fähig oder hat sich davon bewußt verabschiedet. Da kommt dann so ein Phoenixsee in Hörde heraus mit 1.100 frei-finanzierten und nur 90 Sozialwohnungen.

Was ist dagegen zu tun? Was fordern wir? Welche Möglichkeiten haben wir, um die Wohnungspolitik in Dortmund sozialer zu machen?

1.    Die 25%-Regelung

1994 beschloss der Stadtrat, dass in Neubaugebieten Investoren 25% des Baulands an die Stadt abgeben müssen. 2014 wurde diese Regelung (von der LINKEN im Stadtrat energisch unterstützt) so erweitert, dass die Bauherren in neuen Baugebieten 25% der Wohneinheiten als Sozialwohnungen planen sollen. Das ist ein richtiger Schritt, um die Freiheit der Kapitalverwertung etwas zu begrenzen. Aber in der Praxis wird die Regel allzu oft umgangen und ausgehebelt, und wie die aktuellen Zahlen beweisen, reicht sie bei weitem nicht aus, um den Mangel an Sozialwohnungen zu überwinden. Da muss mehr geschehen.

2.    Die Stadt muss mehr günstige Wohnbauflächen aktivieren.

Im gesamten Stadtgebiet ist in Bebauungsplänen, Baulücken oder durch Nachverdichtung noch Bauland für ca. 7.700 Wohneinheiten ausgewiesen, die binnen zwei Jahren erstellt werden könnten. Aber diese Flächen sind sehr ungleichmäßig über die Stadt verteilt. Im Stadtbezirk Hörde kommen auf längere Sicht Grundstücke für ca. 1.900 WE in Frage (1.200 in B-Plänen, 100 in Baulücken und 600 im F-Plan), allerdings sind nur noch zwei größere Flächen sofort verfügbar. Unsere Fraktion in der Hörder Bezirksvertretung macht jetzt Druck, diese Flächen, die seit Jahren vor sich hin schlummern, endlich mit Vorrang zu entwickeln. Es werden nämlich in den nächsten vier Jahren weitere 200 Sozialwohnungen im Stadtbezirk wegfallen.
Ohne stellenweise Umwidmung bestimmter Freiflächen in Wohnbauland wird es also nicht mehr lange abgehen. Uns ist sehr wohl bewusst, dass wir damit ein ökologisches Tabu verletzen, denn natürlich braucht Dortmund auch dringend seine „grünen Lungen“. – Aber solange wir die markthörige Wirtschaftsförderung und die dazu passende Wohnungspolitik dulden, gibt es auf die Schnelle keinen anderen Ausweg.

3.    Die Stadt muss wieder selbst Wohnungen bauen.

Wie wir in der Nachkriegszeit lernten, ist auch katastrophaler Wohnungsmangel zu überwinden, wenn die öffentliche Hand den Wohnungsbau nicht nur dem Markt überlässt, sondern selbst als Bauherr auftritt. Unter den aktuellen Bedingungen, da die Kapitalzinsen so niedrig sind, dass vergünstigte öffentliche Darlehen für private Investoren nicht mehr lukrativ genug sind, um dafür Mietobergrenzen in Kauf zu nehmen, wird es wieder unumgänglich, dass die Stadt selbst baut.
Seit drei, vier Jahren hat das auch die Dortmunder Stadtspitze erkannt, was wir schon lange fordern, und hat – vorerst für 330 WE in fünf Baugebieten – einen Weg gefunden, über ein städtisches Sondervermögen tätig zu werden. Unsere Ratsfraktion erkundet jetzt, wie dies Modell verbessert und erweitert werden kann.

4.    Wir müssen die Landes- und Bundespolitik in die Pflicht nehmen.

Die vor-vorige Landesregierung NRW (CDU/FDP) hat die Gemeindeordnung so verändert, dass den Kommunen fast jede wirtschaftliche Betätigung untersagt werden kann. Die Städte und Gemeinden müssen darauf dringen, dass die jetzige CDU-FDP-Regierung das nicht benutzt, um den kommunalen Wohnungsbau noch weiter einzuschränken.

Gemeinsam mit unserer Bundestagsfraktion fordern wir außerdem,
-       - die sogen. „Mietpreisbremse“, die sich als pure Augenwischerei blamiert hat, so umzubauen und zu verallgemeinern, dass sie wirklich funktioniert.

-       - Wohnungsbaugenossenschaften müssen gegenüber privaten Kapitalunternehmen rechtlich gestärkt und bevorzugt werden. Auch dazu hat unsere Bundestagsfraktion konkrete Vorschläge gemacht.