Dienstag, 28. November 2017

GroKo? Minderheitsregierung? Egal, die Herrschaften bleiben eh‘ unter sich. Aber ihr "Weiter-so" funktioniert nicht mehr.

Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen wird jetzt die brave alte SPD so lange weich gekocht, bis sie freiwillig den Geist aufgibt. Noch vier Jahre Merkels Stallknecht, und niemand kann sich mehr erinnern, dass diese Partei jemals eine andere gesellschaftliche Rolle spielte als den Neoliberalismus rosa zu sprenkeln und den eigenen Funktionären warme Plätzchen zu sichern. War das ihr Wählerauftrag? War die Sozialdemokratie nicht als historische Gegenkraft gegen Kapitalherrschaft und Ausbeutung gegründet worden? Waren nach der schallenden Ohrfeige von den Wählern am 24.09.2017 nicht zwei Jahre "Erneuerung" angesagt? Alles vergessen außer dem "Weiter-so"?

Ob die Sozialdemokraten es erkennen oder nicht, sie stehen vor einer Entscheidung von historischer Tragweite. Seit Gerhard Schröder 2005 wegen der Hartz-Gesetze die Kanzlerschaft vergeigte und der ersten GroKo unter Angela Merkel Platz machen musste, hat die SPD in drei Großkoalitionen 18 Prozent ihrer Wählerstimmen verloren und rauschte von 38,5% auf 20,5% in den Keller. Jetzt noch eine GroKo, und sie kracht in vier Jahren nach Adam Riese auf ca. 15 Prozent ab. Von da an gibt es in Deutschland nur noch eine einzige „Volkspartei“, ohne die niemand mehr regieren kann – Merkels „marktkonforme Demokratie“ in Ewigkeit amen.

Warum brennen die führenden SPD-Köpfe jetzt trotzdem so heftig auf eine „stabile Regierung"? Weil der Wirtschaftslobby (zu der auch fast alle Spitzenfunktionäre der SPD zählen) die Muffe geht: Unübersehbar steht unsere Gesellschaft an einer Zeitenwende. Auf der Kippe steht der Status quo. Nicht nur Deutschland und Europa, die ganze „westliche" Welt steckt in einer tiefen Krise. Die großen Wirtschaftsmächte ringen darum, wer als Gewinner und wer als Verlierer aus der Krise herauskommt. Es geht also wieder mal um die Stärke des deutschen Kapitals in der Welt. Hier die wichtigsten Krisenmomente:

- Vordergründig leiden die führenden Industrieländer am Schrumpfen ihrer wirtschaftlichen Wachstumsraten.1 Eine kapitalistische Wirtschaft ohne Mengenwachstum mindestens in Höhe des Produktivitätsfortschritts erzeugt aber immer krassere soziale Gegensätze, "bad jobs", Arbeitslosigkeit, Armut, mit allen Folgen eskalierender Konflikte, bis hin zu verödeten Regionen, zerfallenden Staaten, Aufständen, Sezessionen, Bürgerkriegen; auf längere Sicht läuft sie Gefahr, am Widerspruch zwischen Produktivitätszuwachs und stagnierenden Märkten zu ersticken.

- Zum Krisenproblem wird aber auch die Fortsetzung der Wachstumsdynamik, weil sie schon lange und zunehmend Raubbau an den natürlichen Ressourcen betreibt und global unsere Lebensgrundlagen zerstört (Klima, Wasser, Boden, Vegetation, Artenvielfalt). Da dies Problem erwiesenermaßen mit marktwirtschaftlichen Methoden nicht gelöst werden kann (siehe die Ohnmacht der Klimakonferenzen gegenüber „den Märkten"), führt es zu Massenmigrationen in den ruinierten Weltregionen und aus diesen heraus in die Wohlstandsgesellschaften.

- Nach 1989 haben bewaffnete Konflikte weltweit massiv an Zahl, Umfang der Zerstörungen und zivilen Opfern zugenommen. Eine wesentliche Ursache, auch für Bürgerkriege, Warlords und Terrorarmeen, bildet die aggressive Konkurrenz der kapitalistischen Mächte um Märkte und Einflusszonen. Die Folge sind weiter anschwellende Flüchtlingsströme aus zerstörten und verelendeten Zonen, gegen die sich die "zivilisierten" Länder zunehmend abschotten und ent-demokratisieren (Anti-Terror-Gesetze, Flüchtlingslager, autoritäre Regimes usw.)
Nicht zuletzt wächst damit die Gefahr direkter militärischer Konfrontation der Großmächte.

- Die EU gilt noch vielen als Garant des Friedens zwischen den früheren europäischen Kriegsgegnern. Doch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, die in vielen Ländern bis heute nicht überwunden ist, zerfällt die EU, und hinter der Friedensfassade trumpft der alte deutsche Vormachtanspruch wieder auf. In vielen Ländern, aber auch bei uns werden nationalistische und faschistische Bewegungen offen oder heimlich unterstützt, um mit Hetze gegen Flüchtlinge, Einwanderer, Muslime, die „faulen Griechen" usw. den Volkszorn auf äußere Feindbilder abzulenken.

- Nicht dramatische Schreckensszenarien einer angeblich drohenden „Explosion" der Weltbevölkerung, sondern die abgrundtiefe Kluft zwischen reichen und armen Weltregionen wird noch weit stärkeren Wanderungsdruck auf die reichen Staaten erzeugen, als wir uns das heute vorstellen können, und hier zu mehr und mehr gewaltsamer Abwehr führen.

Wer hat uns in diese Abwärtsspirale hineingetrieben? Unfähige Regierungen, korrupte Meinungsmacher, dumme "Eliten", raffgierige Spekulanten, kurzsichtige Unternehmer, egoistische Verbraucher, unmündige Wähler? Ja und nein. Sie alle haben ihre bestimmte Stellung im Gesellschaftssystem, nach dem das Zusammenleben einige Jahrhunderte lang funktionierte. Sowohl die Produktion des materiellen Reichtums als auch die zugehörige, von den Marktbeziehungen der Privateigentümer geprägte Lebensweise treibt uns in die Krisenspirale hinein. Und die Gier der Superreichen ist die schlimmste Krisenursache.

Das alles wissen die alten Hasen der „politischen Klasse“ so gut wie wir. Und sie wissen auch: Egal ob man die heutige Entwicklungsstufe der Menschheit "Kapitalismus", "Moderne", "das bürgerliche Zeitalter" oder sonstwie nennt, kennzeichnet sie eine Gesellschaft, in der eine Minderheit über die wichtigen Produktionsmittel als ihr Privateigentum verfügt, so dass die Mehrheit, die im wesentlichen nur ihre Arbeitskraft besitzt, diese an die Kapitaleigentümer verkaufen muss, um leben zu können. Aus diesem Klassengegensatz auf der Produktionsebene ergibt sich ihr unterschiedlicher Einfluss im gemeinsamen politisch-juristisch-ideologischen Überbau, den sie, die „Elite“, das Bürgertum aufgrund der Eigentumsordnung dominiert. Das ist der Status quo, den sie verteidigen. Dazu brauchen sie ihre „stabile Regierung“, egal wie.

Und wenn die SPD nicht umfällt?

Wie sich aus dem bisher Gesagten mit zwingender Logik ergibt, müsste eine Mehrheit der Bevölkerung, bestehend aus der Arbeiterklasse und Teilen des kleinen und mittleren Bürgertums, objektiv ein unmittelbares, starkes Eigeninteresse an einem Systemwechsel haben. Doch dem objektiven Interesse entspricht kein subjektives Wollen. Ganze Bibliotheken sind voll von Untersuchungen, mit welchen Methoden die herrschende Klasse es noch schafft, die Mehrheit an der Suche nach einer Alternative zu hindern. (Die platte Argumentation, ein anderes System sei abzulehnen, weil die Mehrheit kein anderes wünscht, ist daher so inhaltsleer wie die Aussage: "Die Mehrheit hat recht, weil sie die Mehrheit ist und Mehrheiten immer recht haben.")

Bekanntlich lässt sich aber die Zukunft kaum nach den Gesetzen der Logik vorhersehen und schon gar nicht nach diesen allein. Wir sagen, für etwas Neues muss die Zeit reif sein. Oder mit Karl Marx' Worten: "Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktivkräfte treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind." (K.Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW Band 13, Berlin 1972, S.9)

Diese allgemeine Einsicht gilt selbstverständlich auch für die Strategie politischer Parteien, die eine neue Gesellschaftsordnung anstreben. Sie haben zu beachten, dass der Kapitalismus besonders auf vier Gebieten die Produktivkräfte noch erheblich weiter entwickeln und zugleich die materiellen Bedingungen für eine neue Gesellschaft "ausbrüten" kann:

- Die weltweite Ausdehnung der kapitalistischen Wirtschaft ("Globalisierung") kann noch riesige Arbeitskraftreserven mobilisieren und Märkte erschließen. - Diese Tendenz steht allerdings im labilen, sich täglich verschärfenden Gegensatz zu den eingangs skizzierten Krisenmomenten.

- Die Wissensproduktion mithilfe neuer Informationstechnik (Computerisierung) hebt die Fähigkeiten der menschlichen Arbeitskraft auf bisher unbekannte Höhen verwissenschaftlichter Produktion - und qualifiziert damit die Arbeiterklasse weiter zur Übernahme der Produktion und Verteilung in eigene Regie.

- Die digitale Vernetzung der Produktions- und Marktbeziehungen über die Grenzen der Einzelkapitale hinaus erzeugt Rationalisierungsschübe von noch nicht absehbaren Ausmaßen - und stößt zugleich an die Grenze der gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse.

- Die Gentechnologie kann im Zusammenwirken mit einer echten, dezentralen Energiewende sowohl die Nahrungsmittelproduktion als auch den Ressourcenverbrauch so revolutionieren, dass der Kollaps des Ökosystems vermieden werden kann.

Ob bzw. wie weit „die Märkte" - die chaotischen Konjunkturen privater Investitionsentscheidungen! - zu so großen Sprüngen fähig sind, liegt noch im Dunkeln. Dennoch erzeugen oder verstärken diese gigantischen wirtschaftlichen Potentiale bei vielen Menschen Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Lebenslage und die Überwindung der Krisen innerhalb der bestehenden Ordnung; und vielleicht noch mehr Menschen sehen darin den Spatz in der Hand, den sie einer unbekannten Taube auf dem Dach vorziehen. Diese Menschen bilden die eigentliche Massenbasis der Sozialdemokratie. Ihnen würde die SPD mit einer neuen GroKo in den Rücken fallen – oder aber mit einer linken Reformalternative ein neues politisches Ziel geben.

Dass eine Mehrheit trotz der unübersehbaren Endzeitsymptome der Gegenwart noch davor zurückschreckt, sich eine Zukunft über den Kapitalismus hinaus ernsthaft vorzustellen, ist also keineswegs nur der herrschenden Propaganda geschuldet, sondern Ergebnis einer durchaus nüchternen materiellen Abwägung: Wie immer in der Geschichte lässt sich die Mehrheit erst auf Neues ein, je mehr sie sich durch Tatsachen überzeugen kann, dass das Neue dem Altgewohnten überlegen ist. Die Folge ist, dass Altes und Neues meist lange nebeneinander bestehen, bis das Neue sich durchsetzt.

Es würde sich aber niemals durchsetzen, wenn es keine tatkräftige und zielklare Minderheit gibt, die mit seiner praktischen Verwirklichung anfängt. Dazu braucht es sowohl die LINKE als auch eine selbstbewußte, ihrer historischen Bedeutung bewußte SPD. Gemeinsam wären wir auch in der Opposition eine starke Gegenmacht, die zeigen kann, wie soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Friedenspolitik auch gegen die Blockade einer kurzsichtigen Oberschicht praktisch zu verwirklichen sind.


1 Jährliche BIP-Zunahme von 2008 bis 2016 in der OECD durchschnittlich +1,1 % - in der BRD +0,95 % - in den 90‘er Jahren lag sie noch bei +2,6 % (OECD) bzw. +2,3 % (BRD). Dieser rückläufige Trend geht einher mit einem Zurückbleiben der Industrieproduktion hinter dem „Volkseinkommen" (Summe der Arbeitsentgelte plus Unternehmens- und Vermögenseinkommen)

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