Nach
dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen wird jetzt die brave alte SPD so lange weich
gekocht, bis sie freiwillig den Geist aufgibt. Noch vier Jahre Merkels Stallknecht,
und niemand kann sich mehr erinnern, dass diese Partei jemals eine andere
gesellschaftliche Rolle spielte als den Neoliberalismus rosa zu sprenkeln und
den eigenen Funktionären warme Plätzchen zu sichern. War das ihr Wählerauftrag?
War die Sozialdemokratie nicht als historische Gegenkraft gegen
Kapitalherrschaft und Ausbeutung gegründet worden? Waren nach der schallenden
Ohrfeige von den Wählern am 24.09.2017 nicht zwei Jahre "Erneuerung"
angesagt? Alles vergessen außer dem "Weiter-so"?
Ob die
Sozialdemokraten es erkennen oder nicht, sie stehen vor einer Entscheidung von
historischer Tragweite. Seit Gerhard Schröder 2005 wegen der Hartz-Gesetze die Kanzlerschaft vergeigte
und der ersten GroKo unter Angela Merkel Platz machen musste, hat die SPD in drei
Großkoalitionen 18 Prozent ihrer Wählerstimmen verloren und rauschte von 38,5%
auf 20,5% in den Keller. Jetzt noch eine GroKo, und sie kracht in vier Jahren nach
Adam Riese auf ca. 15 Prozent ab. Von da an gibt es in Deutschland nur noch
eine einzige „Volkspartei“, ohne die niemand mehr regieren kann – Merkels
„marktkonforme Demokratie“ in Ewigkeit amen.
Warum
brennen die führenden SPD-Köpfe jetzt trotzdem so heftig auf eine „stabile
Regierung"? Weil der Wirtschaftslobby (zu der auch fast alle Spitzenfunktionäre
der SPD zählen) die Muffe geht: Unübersehbar steht unsere Gesellschaft an einer
Zeitenwende. Auf der Kippe steht der Status quo. Nicht nur Deutschland und
Europa, die ganze „westliche" Welt steckt in einer tiefen Krise. Die
großen Wirtschaftsmächte ringen darum, wer als Gewinner und wer als Verlierer
aus der Krise herauskommt. Es geht also wieder mal um die Stärke des deutschen
Kapitals in der Welt. Hier die wichtigsten Krisenmomente:
-
Vordergründig leiden die führenden Industrieländer am Schrumpfen ihrer wirtschaftlichen
Wachstumsraten.1 Eine kapitalistische Wirtschaft ohne Mengenwachstum
mindestens in Höhe des Produktivitätsfortschritts erzeugt aber immer krassere soziale
Gegensätze, "bad jobs", Arbeitslosigkeit, Armut, mit allen Folgen
eskalierender Konflikte, bis hin zu verödeten Regionen, zerfallenden Staaten,
Aufständen, Sezessionen, Bürgerkriegen; auf längere Sicht läuft sie Gefahr, am
Widerspruch zwischen Produktivitätszuwachs und stagnierenden Märkten zu
ersticken.
- Zum
Krisenproblem wird aber auch die Fortsetzung der Wachstumsdynamik, weil sie
schon lange und zunehmend Raubbau an den natürlichen Ressourcen betreibt und
global unsere Lebensgrundlagen zerstört (Klima, Wasser, Boden, Vegetation, Artenvielfalt).
Da dies Problem erwiesenermaßen mit marktwirtschaftlichen Methoden nicht gelöst
werden kann (siehe die Ohnmacht der Klimakonferenzen gegenüber „den
Märkten"), führt es zu Massenmigrationen in den ruinierten Weltregionen
und aus diesen heraus in die Wohlstandsgesellschaften.
- Nach
1989 haben bewaffnete Konflikte weltweit massiv an Zahl, Umfang der
Zerstörungen und zivilen Opfern zugenommen. Eine wesentliche Ursache, auch für
Bürgerkriege, Warlords und Terrorarmeen, bildet die aggressive Konkurrenz der
kapitalistischen Mächte um Märkte und Einflusszonen. Die Folge sind weiter
anschwellende Flüchtlingsströme aus zerstörten und verelendeten Zonen, gegen
die sich die "zivilisierten" Länder zunehmend abschotten und
ent-demokratisieren (Anti-Terror-Gesetze, Flüchtlingslager, autoritäre Regimes
usw.)
Nicht
zuletzt wächst damit die Gefahr direkter militärischer Konfrontation der
Großmächte.
- Die
EU gilt noch vielen als Garant des Friedens zwischen den früheren europäischen
Kriegsgegnern. Doch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, die in vielen
Ländern bis heute nicht überwunden ist, zerfällt die EU, und hinter der
Friedensfassade trumpft der alte deutsche Vormachtanspruch wieder auf. In
vielen Ländern, aber auch bei uns werden nationalistische und faschistische
Bewegungen offen oder heimlich unterstützt, um mit Hetze gegen Flüchtlinge,
Einwanderer, Muslime, die „faulen Griechen" usw. den Volkszorn auf äußere
Feindbilder abzulenken.
-
Nicht dramatische Schreckensszenarien einer angeblich drohenden
„Explosion" der Weltbevölkerung, sondern die abgrundtiefe Kluft zwischen
reichen und armen Weltregionen wird noch weit stärkeren Wanderungsdruck auf die
reichen Staaten erzeugen, als wir uns das heute vorstellen können, und hier zu
mehr und mehr gewaltsamer Abwehr führen.
Wer
hat uns in diese Abwärtsspirale hineingetrieben? Unfähige Regierungen, korrupte
Meinungsmacher, dumme "Eliten", raffgierige Spekulanten, kurzsichtige
Unternehmer, egoistische Verbraucher, unmündige Wähler? Ja und nein. Sie alle
haben ihre bestimmte Stellung im Gesellschaftssystem, nach dem das
Zusammenleben einige Jahrhunderte lang funktionierte. Sowohl die Produktion des
materiellen Reichtums als auch die zugehörige, von den Marktbeziehungen der
Privateigentümer geprägte Lebensweise treibt uns in die Krisenspirale hinein.
Und die Gier der Superreichen ist die schlimmste Krisenursache.
Das
alles wissen die alten Hasen der „politischen Klasse“ so gut wie wir. Und sie
wissen auch: Egal ob man die heutige Entwicklungsstufe der Menschheit
"Kapitalismus", "Moderne", "das bürgerliche
Zeitalter" oder sonstwie nennt, kennzeichnet sie eine Gesellschaft, in der
eine Minderheit über die wichtigen Produktionsmittel als ihr Privateigentum
verfügt, so dass die Mehrheit, die im wesentlichen nur ihre Arbeitskraft
besitzt, diese an die Kapitaleigentümer verkaufen muss, um leben zu können. Aus
diesem Klassengegensatz auf der Produktionsebene ergibt sich ihr
unterschiedlicher Einfluss im gemeinsamen politisch-juristisch-ideologischen
Überbau, den sie, die „Elite“, das Bürgertum aufgrund der Eigentumsordnung
dominiert. Das ist der Status quo, den sie verteidigen. Dazu brauchen sie ihre
„stabile Regierung“, egal wie.
Und wenn die SPD nicht
umfällt?
Wie
sich aus dem bisher Gesagten mit zwingender Logik ergibt, müsste eine Mehrheit
der Bevölkerung, bestehend aus der Arbeiterklasse und Teilen des kleinen und
mittleren Bürgertums, objektiv ein unmittelbares, starkes Eigeninteresse an
einem Systemwechsel haben. Doch dem objektiven Interesse entspricht kein
subjektives Wollen. Ganze Bibliotheken sind voll von Untersuchungen, mit
welchen Methoden die herrschende Klasse es noch schafft, die Mehrheit an der
Suche nach einer Alternative zu hindern. (Die platte Argumentation, ein anderes
System sei abzulehnen, weil die Mehrheit kein anderes wünscht, ist daher so
inhaltsleer wie die Aussage: "Die Mehrheit hat recht, weil sie die
Mehrheit ist und Mehrheiten immer recht haben.")
Bekanntlich
lässt sich aber die Zukunft kaum nach den Gesetzen der Logik vorhersehen und
schon gar nicht nach diesen allein. Wir sagen, für etwas Neues muss die Zeit
reif sein. Oder mit Karl Marx' Worten: "Eine
Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt
sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktivkräfte treten nie an
die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der
alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind." (K.Marx, Zur
Kritik der Politischen Ökonomie, MEW Band 13, Berlin 1972, S.9)
Diese allgemeine Einsicht gilt selbstverständlich auch
für die Strategie politischer Parteien, die eine neue Gesellschaftsordnung
anstreben. Sie
haben zu beachten, dass der Kapitalismus besonders auf vier Gebieten die
Produktivkräfte noch erheblich weiter entwickeln und zugleich die materiellen
Bedingungen für eine neue Gesellschaft "ausbrüten" kann:
- Die
weltweite Ausdehnung der kapitalistischen Wirtschaft
("Globalisierung") kann noch riesige Arbeitskraftreserven
mobilisieren und Märkte erschließen. - Diese Tendenz steht allerdings im
labilen, sich täglich verschärfenden Gegensatz zu den eingangs skizzierten
Krisenmomenten.
- Die
Wissensproduktion mithilfe neuer Informationstechnik (Computerisierung) hebt
die Fähigkeiten der menschlichen Arbeitskraft auf bisher unbekannte Höhen
verwissenschaftlichter Produktion - und qualifiziert damit die Arbeiterklasse
weiter zur Übernahme der Produktion und Verteilung in eigene Regie.
- Die
digitale Vernetzung der Produktions- und Marktbeziehungen über die Grenzen der
Einzelkapitale hinaus erzeugt Rationalisierungsschübe von noch nicht absehbaren
Ausmaßen - und stößt zugleich an die Grenze der gegenwärtigen
Eigentumsverhältnisse.
- Die
Gentechnologie kann im Zusammenwirken mit einer echten, dezentralen
Energiewende sowohl die Nahrungsmittelproduktion als auch den
Ressourcenverbrauch so revolutionieren, dass der Kollaps des Ökosystems vermieden
werden kann.
Ob
bzw. wie weit „die Märkte" - die chaotischen Konjunkturen privater
Investitionsentscheidungen! - zu so großen Sprüngen fähig sind, liegt noch im
Dunkeln. Dennoch erzeugen oder verstärken diese gigantischen wirtschaftlichen
Potentiale bei vielen Menschen Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer
Lebenslage und die Überwindung der Krisen innerhalb der bestehenden Ordnung;
und vielleicht noch mehr Menschen sehen darin den Spatz in der Hand, den sie
einer unbekannten Taube auf dem Dach vorziehen. Diese Menschen bilden die
eigentliche Massenbasis der Sozialdemokratie. Ihnen würde die SPD mit einer
neuen GroKo in den Rücken fallen – oder aber mit einer linken Reformalternative
ein neues politisches Ziel geben.
Dass
eine Mehrheit trotz der unübersehbaren Endzeitsymptome der Gegenwart noch davor
zurückschreckt, sich eine Zukunft über den Kapitalismus hinaus ernsthaft vorzustellen,
ist also keineswegs nur der herrschenden Propaganda geschuldet, sondern
Ergebnis einer durchaus nüchternen materiellen Abwägung: Wie immer in der
Geschichte lässt sich die Mehrheit erst auf Neues ein, je mehr sie sich durch
Tatsachen überzeugen kann, dass das Neue dem Altgewohnten überlegen ist. Die
Folge ist, dass Altes und Neues meist lange nebeneinander bestehen, bis das
Neue sich durchsetzt.
Es würde sich aber niemals durchsetzen, wenn es
keine tatkräftige und zielklare Minderheit gibt, die mit seiner praktischen
Verwirklichung anfängt. Dazu braucht es sowohl die LINKE als auch eine selbstbewußte,
ihrer historischen Bedeutung bewußte SPD. Gemeinsam wären wir auch in der
Opposition eine starke Gegenmacht, die zeigen kann, wie soziale Gerechtigkeit,
Ökologie und Friedenspolitik auch gegen die Blockade einer kurzsichtigen
Oberschicht praktisch zu verwirklichen sind.
1 Jährliche BIP-Zunahme von
2008 bis 2016 in der OECD durchschnittlich +1,1 % - in der BRD +0,95 % - in den
90‘er Jahren lag sie noch bei +2,6 % (OECD) bzw. +2,3 % (BRD). Dieser
rückläufige Trend geht einher mit einem Zurückbleiben der Industrieproduktion
hinter dem „Volkseinkommen" (Summe der Arbeitsentgelte
plus Unternehmens- und Vermögenseinkommen).
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