Dienstag, 30. Januar 2018

Notizen aus der Provinzhauptstadt: "Ecosystem" - Schlüsselwort für eine neue Ära kommunaler Wirtschaftspolitik?


Vor wenigen Monaten beschloss die Stadtpolitik, mithilfe eines "Masterplans Digitalisierung" aus Dortmund eine "Smart City" zu machen. Einer dafür gegründeten öffentlich-privaten "Allianz Smart City Dortmund" schlossen sich bald 120 Unternehmen und Forschungseinrichtungen an. Sie trugen einige Dutzend Projektideen zusammen, die das Leben der Stadtbewohner-innen erleichtern und/oder verschönern sollen, von kleinen App-Spielereien bis zu gigantischen Big-Data-Pools im Verkehrs- und Energiesektor.

Dass es dabei nicht nur um nette Kinkerlitzchen geht, sondern um die grundlegende strategische Neuausrichtung der kommunalen Wirtschaftspolitik, zeigt jetzt der nächste Schritt: Der städtische Eigenbetrieb "Wirtschaftsförderung Dortmund" steht vor einem Totalumbau.

"Heute agieren Unternehmen in Netzwerken und sogenannten Ecosystemen," konstatiert ihr Chef Thomas Westphal in der Ratsvorlage zur Neuorganisation. Dem zu Folge müsse sich die Wirtschaftsförderung "vom klassischen reaktiven Dienstleister zum agilen Netzwerker" wandeln.

Was steckt hinter diesem Wortgeklingel? Wie eine Recherche im Internet ergibt, ist "Ecosystem" nicht nur ein neues Modewort der Betriebswirtschaft, sondern Codewort für eine ganze Unternehmensstrategie und ihr folgend auch der Wirtschaftspolitik.

Das Wort "Ecosystem" hat der US-Ökonom James F.Moore 1993 aus der Biologie entlehnt. Dort bezeichnet es Gemeinschaften von Organismen, die mit anderen in ihrer Umgebung interagieren. Moore wandte es auf ökonomische Zusammenarbeit an. Er bezeichnete als Ecosystem
"eine wirtschaftliche Gemeinschaft aus interagierenden Organisationen und Individuen - den "Organismen" der Wirtschaft. Die wirtschaftliche Gemeinschaft erzeugt Güter und Dienstleistungen mit Wert für Kunden, die selbst zum Ecosystem zählen. Das Ecosystem umfasst auch Zulieferer, vertraglich assoziierte Haupt- und Nebenproduzenten, Wettbewerber und andere Stakeholder. Mit der Zeit entwickeln sie ihre Fähigkeiten und Funktionen im Markt gemeinsam und tendieren dahin, sich den Anforderungen anzupassen, die von einem oder mehreren Zentral-Unternehmen an sie gestellt werden. Diese Unternehmen, die die Führung innehaben, mögen mit der Zeit wechseln, aber die Führungsfunktion im Ecosystem wird von der Gemeinschaft geschätzt, weil sie den Mitgliedern ermöglicht, gemeinsame Visionen zu verwirklichen, ihre Investitionen abzustimmen und sich gegenseitig zu stärken." (soweit J.F.Moore)

Entstanden ist diese Konzeption der Vernetzung um ein führendes Zentralunternehmen herum nicht zufällig im Silicon Valley, wo die  Hochtechnologie der Welt auf dieser Basis entwickelt und vermarktet wird. Die meisten Quellen sind sich einig, dass diese Struktur besonders auf Hitech-Konzerne zugeschnitten ist. Diese nutzen ihre überragende technologische und finanzielle Macht, um nicht mehr nur die ganze Wertschöpfungskette eines Produkts, sondern jetzt auch alle möglichen Nebenprodukte und Dienstleistungen um sich herum ihren Renditeanforderungen zu unterwerfen. So bilden sich riesige Agglomerate um die marktbeherrschenden Zentralkonzerne über Branchen- und Ländergrenzen hinweg.

Zwei Beispiele aus dem Alltag sollen das verdeutlichen. Wie allgemein bekannt haben die großen Supermarktketten nicht nur schon viele eigene Produktionsbetriebe aufgebaut, sondern unabhängige Großschlächtereien, Molkereien, Viehhändler, Milch- und Weinbauern und zahllose andere Lieferanten durch Lieferverträge an sich gebunden und können denen allein durch ihre Marktmacht Preise, Termine und Konditionen diktieren. Aber damit nicht genug, beteiligen sich einige Discounter inzwischen über weltweit tätige Agrarkonzerne am Landgrabbing in Afrika, am Abholzen der Regenwälder für Rinderfarmen, Palmölplantagen usw.
Das andere Beispiel: Amazon verkauft nicht nur Bücher, sondern bindet über Lieferverträge sowohl Verlage als auch Auslieferdienste an sich. Mit dem Vertrieb von e-Books, DVDs, Filmen und anderen digitalen Medien hat der Konzern die eigene Produktpalette erweitert, aber auch unzählige große und kleine IT-Spezialisten, Medien- und Hardware-Hersteller an sich gebunden. Und neuerdings mischt der Börsenriese sogar mit „Amazon Fresh“ den Lebensmittelhandel auf.

Wenn unsere Stadtspitze diesen Strukturwandel jetzt für Dortmund vorantreibt und den eigenen Betrieb darauf umstellt, ist klar, wohin der Hase laufen soll: Mithilfe der Wirtschaftsförderung wird ein Teil der Dortmunder Unternehmen den Erfordernissen der Weltmarktbeherrschung angepasst, der große Rest kann sehen wo er bleibt.

Damit wird noch offensichtlicher, weshalb ausgerechnet der US-Konzern CISCO die treibende Kraft hinter "Smart City Dortmund" wurde. Es geht aber nicht nur um CISCO. Von den mehr als 11.000 Mitgliedsfirmen der IHK zu Dortmund sind noch nicht mal 80 (weniger als 1 Prozent) der "Allianz Smart City Dortmund" beigetreten (Stand Herbst 2017). Unter den 120 Allianz-Mitgliedern haben 46 ihren Firmensitz nicht in Dortmund, sondern benutzen nur die Dortmunder Strukturen, um ihre Marktmacht auszudehnen. Von diesen 46 „Ortsfremden“ spielen mindestens 20 in der Weltliga der Hitech-Branchen und haben großenteils selbst um sich herum schon ihre "Ecosysteme" aufgebaut.

Natürlich können und wollen wir dem Dortmunder Mittelstand nicht verbieten, sich solchen Ecosystemen anzuschließen. Natürlich spricht auch nichts dagegen, den städtischen Eigenbetrieb WF-DO so zu modernisieren, dass er aktiver auf die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt einwirken kann und seine Mitarbeiter-innen mehr "Autonomie und Eigenverantwortung" erhalten, wie die Vorlage es ihnen verspricht.

Es dürfte aber den wenigsten von ihnen auf- und einfallen, dass sie sich damit auf Gedeih und Verderb an Kapitalmächte binden, die sich gegenseitig die Beherrschung der Weltmärkte streitig machen – und dazu neuerdings eben auch diese Hilfstruppen in die Schlacht werfen, die sich ihnen freiwillig im Rahmen solcher Ecosysteme unterordnen.
Schon im Zusammenhang mit „Industrie 4.0“ und dem „Masterplan Digitales Dortmund“ wurde uns die Vernetzung von Wirtschaftsabläufen über Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg als revolutionärer Fortschritt für Dortmunds Wirtschaft und Stadtgesellschaft gepriesen. – Jetzt erkennen wir: Was so freundlich als harmloses „Netzwerk“ daherkommt, kann zum Baustein einer weltumspannenden Strategie im Wettkampf der Wirtschaftsimperien werden. Eine immer kleinere Zahl von Weltkonzernen wird so noch mächtiger. Damit nehmen alle Gefahren weiter zu, die aus ihrer Macht über die Erde und die Menschen entstanden sind.

Stellt die digitale Vernetzung von Wertschöpfungsketten („Industrie 4.0“) eine Weiterentwicklung der technisch-organisatorischen Produktions- und Verteilungsstrukturen dar – und somit zweifellos einen Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkräfte – so geht es jetzt bei der Herstellung von „Ecosystemen“ um eine neue Formierung der Markt- und Machtbeziehungen zwischen den Kapitalen, um eine neue Qualität der Zusammenballung von Wirtschaftsmacht in globalen Oligopolen.

Kommunale Wirtschaftsförderung, die als abhängige Unterabteilung staatlicher Wirtschaftspolitik ohnehin den Erfordernissen der Kapitalverwertung folgt – jetzt macht sie sich hier sogar zum Treiber („agiler Netzwerker“) der Unterordnung lokaler Klein- und Mittelunternehmen unter die Oligopole. Linke und Piraten werden diese Entwicklung nicht stoppen – aber sie durch Ratsbeschluss zu unterstützen kann nicht unsere Sache sein. Wir sollten uns da raushalten.

Dienstag, 23. Januar 2018

Für eine zeitgemäße Vernunft Für eine Verbreiterung der linken Basis.


Die Entscheidung der SPD für die Fortsetzung des großen Weiter-so und mithin für ihren Abgang in die historische Gerümpelkammer stellt uns vor die Zwangslage, dass in Deutschland auf absehbare Zeit keine Regierung mehr gegen die Schwarzen-Gelb-Blau-Grünen und Braunen möglich wird. Daraus haben wir Konsequenzen zu ziehen. Ein Weiter-so ist auch für die gesellschaftliche wie parteiliche Linke keine vernünftige Strategie mehr. Was heute vernünftig ist, lässt sich aber, wenn man will, schon ziemlich genau eingrenzen.

Nach dem Philosophen Immanuel Kant, der versuchte, im aufkommenden Kapitalismus Ethik neu zu bestimmen, können und müssen wir unsere Pflicht aus unserer Fähigkeit zur Vernunft ableiten. Pflicht und Tugend ließen sich durch einen logischen Mechanismus definieren, der allen Menschen gemeinsam sei. Der Menschenfreund Jean Jaques Rousseau hat den Glauben an die Allmacht der Vernunft in die ideale Form eines Gesellschaftsvertrags ("contrat social") gegossen.

Später, als wir auch diesen Glauben auf den Prüfstand der Wissenschaft stellten, fanden wir: Weder Vernunft noch Ethik sind allgemein menschliche Eigenschaften, sondern entstanden in Jahrtausende langer Evolution als Spaltprodukte der Klassengesellschaft(en). In Epochen, in denen Gesellschaftsklassen, aus materiellen Gründen, einander antagonistisch gegenüberstehen, ist Klassenversöhnung unvernünftig und Klassenkampf vernünftig.

Das haben sämtliche Sozialreformer immer hoch und heilig bestritten. Wer auf allgemein Menschliches schwört, muss implizit oder explizit die Klassenspaltung der Gesellschaft leugnen. Ein Interesse, den Wunderglauben allgemein menschlicher Vernunft aufrecht zu erhalten, haben jetzt nur noch die besitzenden und herrschenden Klassen (sowie deren reformistische Bauchredner).

Was die Lohnabhängigen, Prekarisierten und Milliarden Selbstversorger der Erde tatsächlich gemeinsam haben, ist die Klassenvernunft zur Durchsetzung einer nicht-marktbestimmten, solidarischen Wirtschafts- und Lebensweise von unten. Also die praktische Lösung der Eigentumsfrage: Commons plus Ökologie plus Aneignung digitaler Technologie.

Die solidarische Gesellschaft müssen wir nicht völlig neu erfinden, es existieren viele gute und mutige Ansätze. In den aktuellen Krisen zeigt sich, dass die Menschen besonders in den Krisenländern ihre eigenen vernünftigen Alternativen suchen und finden. Weltweit, besonders in Südamerika und Südeuropa, beginnen Städte und ganze Regionen sich gegen imperiale Verwertung und neoliberale Bevormundung zu stellen. In selbstorganisierten Basisbewegungen, zum Teil mit mutigen Politiker-innen an der Spitze unternehmen sie erste Schritte, sich selbst zu regieren.

Vielleicht stößt die von Oskar L. und Sahra W. aufgegriffene Idee einer Sammlungsbewegung in Form einer neuen linken "Volkspartei" diese Tür auch bei uns weiter auf? Natürlich provoziert sie einen Aufschrei nicht nur der neoliberalen Gralshüter, sondern auch aller Dogmatiker und Reformist-innen auf der Linken. Sie könnte aber der zeitgemäßen Klassenvernunft der Beherrschten eine breitere Basis schaffen.

Dienstag, 16. Januar 2018

Zeit der Entscheidung (Andrea Ypsilanti, SPD)


Andrea Ypsilanti, bis 2009 Landesvorsitzende der hessischen SPD und deren Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag, heute Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des "Instituts Solidarische Moderne" (ISM e.V.), postete am 26.09.2017 auf Facebook:

"Es ist Zeit!
 So schlecht war dieser Wahlslogan gar nicht. Mit einer anderen Strategie, klareren Inhalten und einer anderen Kultur hätte die SPD vielleicht sogar gewinnen können.
Umso wichtiger ist es jetzt, klar zu sagen, wofür keine Zeit ist und wofür auf der anderen Seite mehr Zeit aufgewendet werden muss. Sonst bleibt alles so, wie es nicht ist.
(...)
Es ist Zeit, endlich die Fakten zu erkennen – nicht sie wegzufabulieren. Die SPD hat seit 1998 die Hälfte ihrer Wähler*innen und Mitglieder verloren. Das gehört zusammen gedacht und hat auch etwas miteinander zu tun. Denn es sind nicht die Menschen, die die grandiose Strategie nicht verstanden haben. Im Gegenteil: Sie haben verstanden. Deshalb sind sie gegangen und wählen uns nicht mehr.
Es ist daher höchste Zeit für eine kritische, offene, klare Aufarbeitung. Das gilt für die Agenda 2010, vor allem für die fortwährenden Sanktionen bei Hartz IV, und die Rentenfrage. Das gilt für die Austeritätspolitik der Troika, die Südeuropa an den Abgrund gebracht hat und Millionen Menschen in Armut stürzte.
Es ist Zeit, einfache Mathematik wieder zu begreifen: Eins minus eins ergibt null! Zwei Arbeiterparteien, die gegeneinander und nicht miteinander kämpfen, werden nichts bewegen und nicht gewinnen können. Die eine Partei, die LINKE, verliert (unter anderem stark im Osten an die AfD), weil sie zwar vermeintlich recht hat, aber in der Opposition nichts ändern kann/wird.
(...)
Es ist Zeit, endlich zu realisieren, dass die »Volkspartei SPD« auf dem Spiel steht. Wenn sie als linke Volkspartei überleben will, muss sie erkennen, dass es mehr braucht als gute Worte an »die hart arbeitenden Menschen«.
Es ist Zeit, der AfD klar zu sagen: 87 Prozent haben euch nicht gewählt. Deshalb werdet ihr auch kein Land zurückholen. Denn es gehört den Menschen und keiner Partei. Diese Wähler*innen haben Toleranz, Offenheit, kulturelle Vielfalt, auch wenn sie verschieden sind, gewählt: links, mittig, ganz mittig, grün-konservativ oder sogar die CSU.
Es ist Zeit, für einen großen sozialen, ökologischen und kulturellen Umbau, für Ideen, die diese Transformation voranbringen. Es ist Zeit für einen Aufbruch der gesellschaftlichen Linken und der dafür zur Verfügung stehenden Parteien.
Es ist für die deutsche Sozialdemokratie die Zeit der Entscheidung.
Nach rechts geht es zu den pulverisierten Schwesterparteien in den Niederlanden, Frankreich, Griechenland.
Nach links zur Labour Party und Corbyn, nach den USA zu Sanders, zu Kooperationen mit Syriza, Podemos und den vielen, die trotz allem noch Hoffnung auf Veränderung haben und uns dringend brauchen.
»Eines aber möchten wir in absehbarer Zeit nicht hören: Das jammervolle Geächz der aus der Regierung herausgeworfenen Sozialdemokraten, weil man sie dann grade so behandeln wird, wie sie heute den Reaktionären helfen, die Arbeiter zu behandeln.« (Kurt Tucholsky: Die Weltbühne vom 22.09.1931, Nr. 38, S. 454)

Freitag, 12. Januar 2018

GroKo-Sondierungsergebnisse: Die SPD schaufelt sich ihr eigenes Grab

Von Oskar Lafontaine
Sicher findet man in dem Ergebnis der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD auch Gutes, wie leichte Verbesserungen bei der Rente oder das Verbot von Waffenexporten an Länder, die im Jemen Krieg führen. Aber die vielen Kommentare, die zusammengefasst „Weiter so wie bisher“ lauten, sind richtig. Das mag, wenn die Migration begrenzt bleibt, für CDU und CSU noch gerade so aufgehen, um ihr schwaches Ergebnis bei der Bundestagswahl zu halten (CDU: 26,8 Prozent, ein Minus von 7,4 Prozent. CSU in Bayern: 38,8 Prozent, ein Minus von 10,5 Prozent). Aber die SPD wird, wenn sie die „große Koalition“ fortsetzt, weiter Wähler verlieren.
Die Ungleichheit nimmt zu. Löhne und Renten werden sich unterdurchschnittlich entwickeln. Keine Vermögenssteuer und keine Anhebung des Spitzensteuersatzes zeigen, dass sich die wohlhabenden Spender der Parteien weiter durchsetzen.
Die führenden Sozialdemokraten wissen nicht mehr, was der politische Auftrag einer Partei ist, die sich sozialdemokratisch nennt. Selbstverständlich ist die paritätische Bezahlung der Krankenversicherung zu begrüßen. Aber sie bedeutet ja nur, dass ein Schaden repariert wird, den Christ- und Sozialdemokraten im neoliberalen Reformwahn angerichtet haben. Die Denkmuster bleiben. Verräterisch: Der Arbeitslosenversicherungs-Beitrag soll um 0,3 Prozent gesenkt werden. Das ist, mit der Brille der Arbeitgeber betrachtet, Lohnsenkung! Aus Sicht der Arbeitnehmer heißt das, sie zahlen etwas weniger Beitrag, bezahlen dafür aber mit schlechteren Leistungen in der Arbeitslosenversicherung. Der Sozialabbau der letzten Jahre soll an keiner Stelle entscheidend korrigiert werden.
Auch der Zerfall der europäischen Union setzt sich fort, solange man die Ursachen nicht beseitigt. Wissen die Großkoalitionäre nicht, was sich in Italien zusammenbraut? Die Italiener werden die weitere De-Industrialisierung ihres Landes aufgrund der verfehlten Wirtschafts- und Währungspolitik der EU nicht länger hinnehmen. Solange der deutsche Exportnationalismus triumphiert, sind die europäischen Nachbarn die Leidtragenden. Noch so fromme Sprüche der angeblichen Europafreunde ändern daran nichts.
Hat die SPD vergessen, warum Willy Brandt den Friedensnobelpreis erhalten hat? Soll die Einkreisung Russlands – Nato-Truppen und US-Raketen an der russischen Grenze – weitergehen? Ja es ist richtig: „Europa muss sein Schicksal mehr als bisher in die eigenen Hände nehmen.“ Das kann aber nur heißen, dass die Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts wieder aufgenommen und die Politik der Einkreisung Russlands beendet wird. Eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands muss das Ziel der deutschen Politik sein. Der Großmeister der US-Diplomatie George Kennan bezeichnete die Osterweiterung der Nato als „den verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg“. Zumindest hätten die Sozialdemokraten durchsetzen müssen, dass die auf Betreiben der US-Administration beschlossenen Sanktionen gegen Russland beendet werden. Wenn die SPD unter diesen Bedingungen die „große Koalition“ fortsetzt, schaufelt sie sich ihr eigenes Grab.

Montag, 8. Januar 2018

„Fluchtursachen bekämpfen“?? Deutsch-Europa macht das Gegenteil. Zur Zukunft der EU-Afrika-Partnerschaft. Von Nico Beckert

Ab Mitte 2018 verhandelt die EU ein neues Partnership Agreementmit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks. Vieles wird sich um „Migrationsmanagement“, Sicherheit und Investitionen drehen.
Das sogenannte Partnership Agreement wird in unregelmäßigen Abständen neu verhandelt. Mit diesen Abkommen werden die Leitlinien der Zusammenarbeit zwischen der EU und der AKP-Region festgelegt. Das derzeit noch gültige sogenannte Cotonou-Abkommen hatte eine Laufzeit von 20 Jahren. Es beruhte auf den Säulen Entwicklungshilfe, Handel und politische Kooperation. Bezüglich der Kooperation mit Afrika legt der aktuelle EU-Entwurf im Bereich der Migration neue Schwerpunkte.
Migration und Flüchtlinge – nur was der EU nutzt
Die EU-Kommission spricht davon, dass Migration zu Wachstum und dem Austausch von Wissen und Kompetenzen führe. Das klingt auf den ersten Blick äußerst positiv. Denn um in Afrika einen dynamischen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, braucht es Wachstum, dass auf Wissen, Innovationen und Kompetenzen beruht.
Die EU zielt darauf ab, qualifizierten und gut ausgebildeten Afrikanern die Migration zu erleichtern. So soll Studenten und Wissenschaftlern der Weg nach Europa geebnet und Kurzbesuche für Geschäftsleute und Investoren ermöglicht werden. Außerdem soll die Ausbildung von afrikanischen Arbeitskräften in ihrem Heimatland in Europa unproblematischer als gleichwertig anerkannt werden.
Die EU geht von einem Überschuss an gut qualifizierten Arbeitskräften in den afrikanischen Ländern aus. Allerdings ist das in den meisten Sektoren nicht der Fall. Eine erfolgreiche Abwerbung gut Qualifizierter würde zu einem für die afrikanische Entwicklung negativen Brain Drain führen. Die für ein breitenwirksames Wachstum so wichtigen Fachkräfte drohen dann nach Europa abzuwandern. Im britischen Gesundheitssystem mit einer hohen Anzahl afrikanischer Ärzte ist genau dies bereits Realität.
Für die afrikanischen Staaten blieben nur die Rücküberweisungen der Ausgewanderten als Gewinn der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Migrationspolitik. Diese Rücküberweisungen stellt die EU als Möglichkeit zur Entwicklungsfinanzierung dar. Hier stellt sich allerdings die Frage, wie afrikanische Unternehmer allein mit Geld die strukturellen Defizite überwinden sollen, die teils durch schlechte Regierungsführung teils durch eine entwicklungsfeindliche Handelspolitik verursacht werden.
„Irreguläre Migration“, von Menschen also, die keine ausreichende berufliche Qualifikation aufweisen oder vor Hunger, Armut und Krieg fliehen, soll nach Plänen der EU hingegen eingedämmt werden. Dafür soll das „Grenzmanagement“ in Afrika verbessert und weiter mit der Polizei und der Justiz in afrikanischen Staaten kooperiert werden (hier).
Doch der Begriff „Grenzmanagement“  ist ein Euphemismus. Schon heute arbeitet Europa mit brutalen Diktaturen in Eritrea (welches als „Nordkorea Afrikas“ bezeichnet wird), Südan oder dem Südsudan zusammen. Sie bildet dort Polizisten und Grenzbeamte aus. An die Regime im Niger und Tschad wurden Waffen geliefert. Indem die nationalen Grenzen der Herkunftsländer aufgerüstet werden (mehr dazu hier und hier), sollen Menschen vor der Flucht vor politischer Verfolgung, Kriegen und bewaffneten Konflikten abgehalten werden. De facto wird durch eine solche „Migrationspolitik“ das Menschenrecht auf Asyl eingeschränkt.
Die EU verkennt darüber hinaus, dass ein Großteil der Migration innerafrikanisch stattfindet. Die Überquerung nationaler Grenzen ist für viele Menschen fast alltäglich. Nur ein kleiner Teil der Migranten macht sich wirklich auf den Weg nach Europa. Indem die EU zur Militarisierung nationaler, innerafrikanischer Grenzen beiträgt, nimmt sie Millionen Menschen ein Mittel, um in Nachbarländern bessere menschenrechtliche und wirtschaftliche Perspektiven wahrzunehmen.
Handel – kein fairer Handel absehbar
Beim Thema Handel verfolgt die EU das Ziel der „inklusiven und nachhaltigen Entwicklung“. Die EU möchte den Aufbau von Produktionskapazitäten in Afrika unterstützen, das Unternehmertum voranbringen und die Wertschöpfung vor Ort fördern.
Um diese Ziele zu erreichen verfolgt die EU weiter den Ansatz, das sogenannte Geschäftsumfeld und die Investitionsbedingungen zu verbessern. Damit sollen zum einen bürokratische Hürden beim Aufbau und dem Betrieb eines Unternehmens abgebaut werden – beispielsweise bei der Gründung, der Registrierung von Eigentum oder bei behördlichen Genehmigungen. Zusätzlich zielt der Ansatz auf die Förderung von Infrastrukturinvestitionen im Bereich Transport, Energie und Digitalem. Durch diesen Ansatz können entwicklungshemmende Strukturdefizite überwunden werden.
Allerdings zeigt die Entwicklungsforschung, dass diese Reformen nicht ausreichen. Erfolgreiche Länder setzten auf eine vom Staat gesteuerte Industriepolitik, die eine Diversifizierung der Wirtschaft zum Ziel hat. Eine solche Industriepolitik wäre auch für die von Rohstoffexporten abhängigen afrikanischen Staaten relevant.
Der Ansatz der EU-Kommission zieht nicht in Betracht, dass afrikanische Unternehmen und Landwirte häufig mit starken Unternehmen auf dem Weltmarkt konkurrieren müssen. In Bereichen wie Technologie, Innovation und Produktivität liegen sie weit hinter Konkurrenten aus den USA, Europa oder China zurück. Afrikanische Unternehmen sind laut Studien nur bei 15 – 35% aller Produkte ähnlich wettbewerbsfähig wie ihre europäischen Konkurrenten (hier). Durch einen verstärkten Freihandel drohen diese Unternehmen bankrott und die Arbeitsplätze verloren zu gehen.
Der von der EU anvisierte Freihandel wird also kaum dazu beitragen, das selbstgesteckte Ziel des Aufbaus von Produktionskapazitäten in Afrika zu erreichen. Ganz im Gegenteil. Er droht selbst den letzten Rest industrieller Kapazitäten zu zerstören.
Ungeachtet dessen werden die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs), also die Freihandelsabkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten, in dem EU-Vorschlag als erfolgreiches Projekt der bisherigen Zusammenarbeit gepriesen. Verschwiegen wird, dass viele afrikanische Staaten EPAs ablehnen und diese nur unter großem Druck der EU ratifiziert haben.
Doch auch der angestrebten Regionalkooperation innerhalb Afrikas fügen die EPAs großen Schaden zu. Die Mitgliedsstaaten der afrikanischen Regionalbündnisse wurden in den Verhandlungen gegeneinander ausgespielt und Interim-EPAs mit einzelnen Staaten abgeschlossen. Damit werden regionale Zollbündnisse gesprengt. Wenn etwa Ghana durch das Interim-EPA europäische Güter zollfrei ins Land lässt, dann können diese Waren innerhalb der westafrikanischen Zollunion auch zollfrei nach Nigeria weitergeleitet werden, obwohl sich Nigeria gegen das EPA und den zollfreien Zugang europäischer Produkte wehrt. Nigerias Bemühungen eine eigene Industrie aufzubauen, werden dadurch zunichte gemacht.
Bemühungen, eine eigene Industrie aufzubauen, werden dadurch zunichte gemacht.
Um Investitionen des Privatsektors und generell seine Entwicklung voranzubringen, drängt die EU die afrikanischen Staaten dazu, eine „gerechte“ Wettbewerbspolitik zu verfolgen und für Transparenz beim geistigen Eigentum und Investitionen zu sorgen. Diese Punkte werden von afrikanischer Seite jedoch vehement abgelehnt. Schon bei den EPAs hat die EU versucht, einen (besseren) Investitionsschutz und einen Schutz des geistigen Eigentums für europäische Investoren durchzusetzen sowie den internationalen Wettbewerb zu stärken. Den afrikanischen Staaten gelang es bisher, diese drei Themenfelder aus den EPAs heraushalten. Das Argument, dass ausländische Investoren noch besser geschützt und afrikanische Staaten bei Gesetzesänderungen verklagt werden könnten, dürfte nicht unbegründet sein.
Rohstoffe – freier Zugang für die EU
Bemerkenswert am EU-Vorschlag ist, wie unverblümt die EU ihr Interesse an einem freien Zugang zu und der Förderung von Rohstoffvorkommen kundtut. So ist die Rede von „fairen, nachhaltigen und unverzerrten („undistorted“) Zugang zu den Rohstoffen, der die Souveränität der rohstoffreichen Länder vollständig anerkennt“ (eigene Übersetzung, hier: S. 18).
Die Forderung ist ein Widerspruch in sich: Ein souveräner Staat könnte selbst entscheiden, wie er seine Rohstoffvorkommen nutzen möchte und ob bzw. wem er Zugang gewährt.
Dass die rohstoffpolitische Souveränität afrikanischer Staaten durch die anvisierten Freihandelsabkommen einschränkt wird, macht die Sache nicht besser. Die Abkommen erschweren es, Exportsteuern auf Rohstoffe zu erheben. Exportsteuern können Exporte relativ zu der heimischen Nutzung der Rohstoffe zu verteuern. Das kann in Kombination mit anderen Maßnahmen als Anreiz für Investoren dienen, in den rohstoffreichen Ländern eine Rohstoffe weiterverarbeitende Industrie aufzubauen. Doch die EU schränkt diese Option durch ihre Handelspolitik aktiv ein.
Umso vager bleibt der Kommissionsentwurf bei der Menschenrechtsproblematik im Bergbausektor Afrikas. Zwar wird der sozialen Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social Responsibility) eine wichtige Rolle zugestanden. Und anhand internationaler Standards sollen Gesetze entwickelt oder erlassen werden, um die Verantwortung der Unternehmen durchzusetzen. Ob aber mit diesen Versprechen auch die Unterstützung eines verbindlichen UN-Vertrags gemeint ist, der Unternehmen zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichten würde, wird nicht gesagt. Aufgrund der Blockadehaltung der EU in laufenden Verhandlungen zu so einem Vertrag ist eine Unterstützung in den nächsten Jahren äußerst unwahrscheinlich.
Quelle: https://makroskop.eu/2018/01/europas-interessen-zur-zukunft-der-eu-afrika-partnerschaft/?success=1