Mittwoch, 9. Mai 2018

Warum manche Linke sich mit Zähnen und Klauen an ein versagendes System klammern

Die heftige Polemik um die linke Position zur EU und zum Euro ist in letzter Zeit hinter dem noch heftigeren Streit um Zuwanderung, Asylrecht, Integration, offene Grenzen und Bekämpfung der Fluchtursachen zurückgetreten. Doch spätestens wenn im Herbst die Ergebnisse der BREXIT-Verhandlungen auf dem Tisch liegen und ab 2019 für den Kontinent spürbar werden, dürften die alten inner-linken Debatten um Europas Zukunft erneut aufbrechen. Ich nutze die nachdenklichere Zwischenzeit, um aus Anlass aktueller Meldungen über die Entwicklung der englischen Wirtschaft (ich berichtete in diesem Blog am 04.05.18 darüber) stichworthaft die Haltung des linken Mainstreams zu kritisieren.

- "Je größer das Territorium, umso geringer das Konfliktpotential"?? Viele erhoffen sich von der Aufhebung der nationalstaatlichen Grenzen eine Verringerung der Kriegsgefahren. So warnt z.B. Axel Troost von der Memorandumgruppe, zu befürchten sei (bei Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit), "dass nationalistische Kräfte weiter Auftrieb erhalten und Europa eine Neuauflage von Konflikten erlebt, die nach dem 2. Weltkrieg überwunden schienen."
Die Theorie, dass der Ausschluss nationaler Rivalitäten die Welt friedlicher mache, wird jedoch von den Tatsachen widerlegt: Seit 1945 erleben wir mehr Kriege auf der Welt als je zuvor, und die allermeisten sind Konflikte nicht zwischen verschiedenen Nationen, sondern Machtkämpfe zwischen Clans, Klassen, Stämmen, Religionsgruppen, die von "der Weltgemeinschaft"  angeheizt, aufgerüstet und ausgenutzt werden - einschließlich der ach so friedlichen EU! Der Beitritt südosteuropäischer Länder zur EU wurde erst nach der kriegerischen Zerschlagung Jugoslawiens, auch auf deutsches Betreiben, mit deutschen Bombern möglich.

- "Die Globalisierung hat die Souveränität der Nationen auf den Misthaufen der Geschichte geworfen"?? Damit fallen Linke auf den trügerischen neoliberalen Konsens herein, dass die wirtschaftliche und finanzielle Internationalisierung – das, was wir heute "Globalisierung" nennen – die Staaten gegenüber "den Märkten" machtlos gemacht habe und wir daher keine andere Wahl hätten, als auf nationale Strategien zu verzichten. Bestenfalls bliebe die Hoffnung auf transnationale oder supranationale Formen der Vergemeinschaftung.
Dazu nochmals Axel Troost: "Die Befürworter einer Renationalisierung überschätzen die Spielräume nationalstaatlicher Politik. Vor dem Hintergrund freier Kapital- und Warenströme sowie einer gemeinsamen Währung können nationale Regierungen in den zentralen Feldern der Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik keine progressive Politik im nationalen Alleingang durchhalten." Und Bernd Riexinger, Co-Vorsitzender der LINKEN: "Ein ‚Sozialstaat in einem Land‘ ist aber auf Dauer kaum möglich..." - Beweis? Subjektive Daumenpeilungen. Tatsächlich hat noch kein Mitgliedsstaat der EU die wirtschafts- und sozialpolitische Gesetzgebungshoheit aufgegeben.

- Die Kehrseite dessen sind illusionäre Hoffnungen auf eine sinnvolle Veränderung dadurch, dass die Länder ihre Souveränität "bündeln" und auf supranationale Institutionen übertragen. Dazu Troost: "Was aber im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass eine enge Zusammenarbeit der zwei / drei größten Volkswirtschaften (Deutschland, Frankreich, Italien) nicht neue Handlungsspielräume schaffen könnte."
Dagegen spricht: Viele Aspekte z.B. des Manifests von Jeremy Corbyn (Labour-party, GB) – wie die Renationalisierung von Post-, Eisenbahn- und Energieunternehmen, nationale Kapitalverkehrskontrollen usw. – würden mit Sicherheit von der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof verboten werden. Nicht zuletzt wurde die EU ja genau mit der Absicht gegründet, solche "radikalen" Politiken zu verhindern. Folglich könnte eine progressive Regierung ein sozialistisches Programm nur außerhalb der EU umsetzen.

- Illusionen darüber, die EU könne demokratisiert werden. Dazu Katja Kipping (Co-Vorsitzende der LINKEN): Sahra Wagenknecht habe zwar recht, wenn sie das neoliberale Diktat der Euro-Gruppe (gegen Griechenland) kritisierte. "Aber diese neoliberale Politik ist ja nicht im Euro festgeschrieben, sondern letztlich ein Ergebnis der politischen Kräfteverhältnisse in Europa."
Die Tatsachen: Der einheitliche Binnenmarkt bildete ein entscheidendes Motiv bei der Ausformung der EU-Bürokratie und ebnete den Weg für den Vertrag von Maastricht, der den Neoliberalismus in der Struktur der Europäischen Union festschrieb. Der Maastricht-Vertrag schafft de facto eine supranationale Verfassungsordnung, die die Macht gewählter Regierungen aushebelt. (Der englische Völkerrechtler Alec Stone Sweet bezeichnete das als einen "juristischen Staatsstreich".) Daher ist es unmöglich, den Binnenmarkt vom antidemokratischen Wesen der Europäischen Union zu trennen: seinem strukturell verankerten neoliberalen, bürokratischen und neokolonialen Charakter, der beherrschenden wirtschaftlichen und folglich politischen Macht seines größten Mitglieds Deutschland und den katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen.

- Trügerischer Glaube auch von Linken an den wirtschaftsliberalen Mythos, dass "offene Marktwirtschaften" und internationaler Handel Wohlstand nicht nur für Minderheiten, sondern für ganz Europa bringen. Illusion, die EU und der Euro könnten den Reichtum gerecht verteilen.

- Unbewiesene Kassandrarufe über die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen des Auseinanderbrechens der Währungsunion. Troost: "Eine Rückkehr zu nationalen Währungen – die radikalste Variante einer Renationalisierung – ist keine wünschenswerte politische Option. Dieser Weg würde mit dramatischen ökonomischen und sozialen Verwerfungen einhergehen." Und Bernd Riexinger: "Die Auflösung der Eurozone und die Rückkehr zu nationalen Währungen wären mit einem länger anhaltenden Krisenprozess mit unklarem Ausgang verbunden." - Was ist schlimmer, Pest oder Cholera?

- Die allergrößte Illusion scheint mir aber, ausgerechnet in Deutschland sei ein politisches Kräfteverhältnis (Mehrheit) gegen die Übermacht der Exportwirtschaft hinzukriegen - jedenfalls in einem für den Fortbestand der EU entscheidenden Zeitrahmen. Troost: "Notwendig ist ein Mix von Wachstumsanreizen über öffentliche Investitionen und Sanierungsmaßnahmen für die öffentlichen Finanzen durch eine sozialgerechtere Steuerpolitik... Es geht um Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse... Europa braucht Strukturreformen, aber eben nicht so wie es die Verfechter einer Konsolidierungspolitik fordern... Es geht letztlich um eine steuerfinanzierte Ausgabenpolitik."
Fromme Wünsche. Mit wem will er sie durchsetzen in diesem Land, das unter "Reformen“ versteht, ganz Europa die "schwarze Null" und die Schuldenbremse aufzudrücken?

Ähnlich lauten die Reformforderungen des linken Mainstreams schon Jahrzehnte lang. Da sie heute so wenig Gehör finden wie eh und je in der EU, bleibt der linken Europa-Begeisterung nur das Pathos der „europäischen Idee“. Und das tönt, wie peinlich, fast wortgleich wie die Beschwörungsformeln, mit denen ein anderer soeben sein Scheitern am brachialen deutsch-nationalen Power-play kaschiert – Macron.

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